Page - 109 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 109
2.2.2 Die Autobiographie „Mein Leben“ (1971)
„Ich soll meine Biographie schreiben. Was heißt Biographie?
Mit Daten jonglieren? Idealisieren? Das hieße eine Geschichte schreiben,
die gar nicht wahr ist.“94
Viele AutobiographInnen beginnen ihre Lebensbeschreibungen mit Reflexionen zu
ihrem biographischen Vorhaben. Nicht selten wird dabei die eigene Skepsis dargelegt
und auf die Unmöglichkeit verwiesen, das zu erfüllen, was eine Lebensbeschreibung
erwartungsgemäß leisten sollte. Oft wird zudem betont, dass die Autobiographie
nur auf Wunsch oder Drängen anderer und nicht aus eigener Intention oder gar aus
Geltungswillen verfasst wird. Auch Kokoschka deutete dies an, indem er einleitend
zu seiner Autobiographie schrieb, er „soll“ seine Biographie schreiben. Er verteidigte
sein biographisches Projekt damit, dazu überredet worden zu sein, persönlich habe
er keinen Sinn für biographische Rückblicke. So schrieb er am 7. März 1970 an den
Kunsthistoriker Fritz Schmalenbach:
„Ich bin mitten in der Abfassung einer Biographie, zu welcher ich leider überredet worden
bin und die bloß teils wahre, teils imaginäre Vorkommnisse und Anekdoten enthalten
wird, weil ich keinen Sinn für das Vergangene, keine Erinnerung ebensowenig wie Vor-
stellung einer Zukunft habe. Bin ein Augenblicksmensch.“95
Einerseits sind solche Aussagen dem bereits geschilderten üblichen Narrativ von
VerfasserInnen von Autobiographien oder Memoiren geschuldet, andererseits ge-
währt Kokoschkas obige Aussage aber auch tiefere Einblicke: Als gesellschaftspo-
litisch aktiver Künstler lebte Kokoschka zweifellos mehr in der Gegenwart als in
der Vergangenheit, insofern ist seine Selbstdarstellung als „Augenblicksmensch“
wohl zutreffend. Dies hinderte ihn aber niemals daran, sich der Möglichkeiten und
Wirkungen auto/biographischer Publikationen bewusst zu sein. Kokoschkas Auto-
biographie wirkt dabei seinem bereits beschriebenen Erzählstil entsprechend sehr
memoiren- und anekdotenhaft, speziell in der zweiten Hälfte löst sie sich immer
stärker von der eigentlich chronologisch angelegten Lebenserzählung und beinhal-
tet vorwiegend lebensanschauliche Betrachtungen. Die nicht unbedingt stringente
94 Oskar Kokoschka, Mein Leben. Vorwort und dokumentarische Mitarbeit von Remigius Netzer,
Wien 2008 [EA 1971], 31.
95 OK an Fritz Schmalenbach, [Villeneuve] 7.3.1970, zit. nach Oskar Kokoschka, Briefe IV. 1953–
1976. Hg. von Olda Kokoschka/Heinz Spielmann, Düsseldorf 1988, 222.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463