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4.4 Nationalsozialismus | 397
schen „Ständestaates“ zeigte, kann mit aller Vorsicht konstatiert werden, dass Kubin
Vereinnahmungen von politischer Seite durchaus „dulden“ konnte, wenn nicht so-
gar selbst mitbetrieb, sofern sie ihm von beruflichem Vorteil waren.
4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers
„Nach zwei Monaten stand ich aber wieder auf […]“264
Es ist vielleicht die stärkste und subtilste Form von Widerstand: aus der Diffamie-
rung eine Auszeichnung zu machen. Im Sommer und Herbst 1937 malte Oskar Ko-
koschka ein Selbstporträt, das als direkte Reaktion auf die Verhöhnung und Ver-
nichtung seiner Kunst in Deutschland zu verstehen ist. Während seine Werke in
München in der Schau „Entartete Kunst“ ausgestellt waren, porträtierte Kokoschka
sich selbst als „entarteten Künstler“(Abb. 35). Seiner Freundin Anna Kallin schrieb
er über seine Verzweiflung, aber auch darüber, wie er sich wieder aufgerichtet und
das Selbstporträt begonnen habe:
„[…] meine armen Bilder prangern auf Ausstellungen herum und sollen ganz dreckig sein
von dem Herumschleifen, obwohl ich überzeugt bin, daß sie die Nazis überleben werden
[...] so bin ich natürlich doch verzweifelt gewesen, besonders nach der ersten ‚Kunst‘-Rede
dieses von den europäischen Drahtziehern, Kriegstreibern und Spekulanten mit eingefro-
renem Geld in Deutschland […] angebeteten Untiers, Anstreichers und Oberspießbürgers
aus Linz a.d.D. [...] Nach zwei Monaten stand ich aber wieder auf, um zu malen, und habe
ein großartiges Bild – Selbstporträt des entarteten Künstlers OK – gemalt, das Du in Lon-
don im Jänner oder Februar sehen wirst.“265
Kokoschka nahm die Identität als „entarteter Künstler“ auf, wandelte sie von der
aufgezwungenen Fremdbestimmung zur selbstbestimmten Eigendefinition. Seinem
Freiheitsbedürfnis entsprechend ging es darum, selbständig und handlungsaktiv zu
bleiben. In genau diese Richtung zielte eine Aussage, die er an seinen Freund Albert
Ehrenstein schrieb, während er an dem Porträt arbeitete: „Ich bin nur ein schlichter
Maler, freiwillig entarteter […]“266 Der Titel „entarteter Künstler“ sollte zur Ehren-
bezeichnung werden und auch nicht jedem zustehen. In seiner ebenfalls gegenüber
264 OK an Anna Kallin [Prag] 23.12.1937, zit. nach Kokoschka, Briefe III, 60.
265 OK an Anna Kallin [Prag] 23.12.1937, zit. nach Kokoschka, Briefe III, 59f.
266 OK an Albert Ehrenstein, Wittkowitz 28.10. [1937], zit. nach Kokoschka, Briefe III, 55.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463