Page - 220 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 220 -
Text of the Page - 220 -
| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse220
desires, even only temporarily.
curse you for frustrating my most basic
needs as a h.(uman) being, woman, individual.“133
3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger
„Ich wollt, ich wär ein Mann.“134
Auch Margret Bilger gehörte jener ersten Frauengeneration in Österreich an, der ne-
ben politischer Gleichberechtigung Bildungsmöglichkeiten, auch im Bereich künst-
lerischer Berufe, grundsätzlich offenstanden. Aber selbst im bürgerlichen Umfeld
der Familie Bilger war die Ausbildung der Tochter noch nicht ganz selbstverständ-
lich. Im März 1921 schrieb Margaretha Bilger, die Mutter Margret Bilgers, in einem
Brief an eine Freundin:
„[...] auch ihre Schule bereitet uns Sorge. Es sollte der Staatsgewerbeschule eine Abteilung
für künstlerisches Zeichnen und Malen eingegliedert werden. Wir dachten Gretel einen
guten Grund zu legen für eine spätere künstlerische Ausbildung für Buchschmuck, sei es
in Radieren, Plakatkunst, Holzschnitt oder dergl. Es fehlt der Schule das Geld für den ver-
sprochenen Aufbau. Nun hat sie täglich bis 9 Stunden und kommt doch nicht an ihr Ziel,
dabei entfremdet sie sich jeder häuslichen Arbeit, das ist mir eine Sorge, weil man doch
nicht sicher ist, ob es gelingen wird, ihr Talent auszuwerten.“135
Die Sorgen von Margret Bilgers Mutter umreißen sehr deutlich den Hintergrund
der Ausbildungssituation bürgerlicher Mädchen, wie sie auch noch in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bestanden haben. Die Eltern konnten der Toch-
ter zwar eine (künstlerische) Ausbildung ermöglichen, gingen dabei aber das Risiko
ein, dadurch einen anderen Weg, nämlich den einer künftigen Eheschließung, zu
behindern. Die Sorge der Mutter über die Entfremdung von „jeder häuslichen Ar-
beit“ lässt sich dahingehend interpretieren, dass, falls es der Tochter nicht gelänge
133 Slg. Mautner Markhof Wien, Prov. NL Klien, undatiertes Dokument, von Marietta Mautner Mark-
hof bezeichnet als „Manuskript einer Anklage gegen Ungenannte“, 1950 ff.
134 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Wien 3.11.1925.
135 Margaretha Bilger an Helene Frommel, 11.3.1921, zit. nach Melchior Frommel, Margret Bilger –
eine biographische Dokumentation, in: Otto Wutzel (Hg.), Margret Bilger. 1904–1971. Ausstel-
lungskatalog Zisterzienserstift Schlierbach, Linz 1975, 3–24, 7.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463