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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse308
„Er [Schappeller] vergaß, der gute Mann, dass ideelle Umformstationen sowieso schon
über die ganze Welt verteilt sind. Stationen, die tatsächlich Energien besonderer Art aus-
strahlen und die Ideenwelt, sowie die sittlichen Normen grundsätzlich beeinflussen: die
Kirchen! Hier wird tatsächlich die kosmische Energie umgeformt in reale Energien, aller-
dings im Mysterium der Verwandlung!“403
3.4. Zweites Resümee oder:
Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten
Eingangs wurde in diesem Kapitel die Frage gestellt, was die Menschen des frühen
20.
Jahrhunderts und im Konkreten die in dieser Studie dargestellten KünstlerInnen
bewegte und was sie vice versa auch ihrerseits mitbewegten. Durch die Analyse der
auto/biographischen Dokumente konnten zahlreiche Diskurse, die als Diskurse der
Moderne verstanden werden können, herausgearbeitet und näher betrachtet wer-
den. Der Fokus wurde dabei – und das ergab sich aus der Gewichtung in den vor-
liegenden auto/biographischen Dokumenten – auf die Bereiche des Geschlechter-
verhältnisses, der Beschleunigung der Zeit durch neue Technologien und Urbanität
(zusammengefasst unter dem Begriff der Geschwindigkeit) sowie der spirituellen
Sinnsuche gelegt. Untersucht wurde, welche Positionen die KünstlerInnen dabei je-
weils einnahmen, auch in Verbindung mit vorherrschenden Künstlerstereotypen.
Ich bin dabei davon ausgegangen, dass KünstlerInnen eine gesellschaftliche Vorrei-
terrolle und damit auch mehr Freiräume in Bezug auf gesellschaftliche Neuerungen
oder unkonventionelleren Lebensstil zugestanden wird. Dies konnte nur in Ansät-
zen bestätigt werden, wie das folgende Resümee noch einmal ausführt.
Im Bereich des Geschlechterdiskurses traf im frühen 20. Jahrhundert ein von der
europäischen Aufklärung geprägtes Bild, das Weiblichkeit mit Natur und Männ-
lichkeit mit Geist verband, auf Gegenströmungen aus der Frauenbewegung. Die
These, KünstlerInnen würden mehr Freiräume in gesellschaftlichen Experimenten
zugestanden, könnte dahingehend interpretiert werden, dass in Künstlerkreisen
Geschlechterordnungen anders gelebt würden. Die Vorstellungen einer Künstler-
Bohème war zweifellos, was sexuelle Fragen betrifft, vom Nimbus einer Liberalität
geprägt, auf bestehende Machtkonstellationen in der Geschlechterordnung hatte
dies aber keine Auswirkung. Fast gegenteilig lässt sich in Bezug auf die in der vorlie-
genden Studie analysierten Biographien feststellen, dass vorherrschende Geschlech-
terstereotype kaum hinterfragt wurden und auch die diesbezüglichen Lebenskon-
403 Aloys Wach, Tagebuchblätter seit 1933, Eintrag 22.2.1934.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463