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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse236
3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der
Fortschrittsverweigerung
„[…] einen außerordentlich tiefen Widerwillen
gegen alles Fortschrittliche im allgemeinen.“ 179
Als 1877 Geborener ist Alfred Kubin der älteste der hier untersuchten KünstlerIn-
nen. In Bezug auf den Fortschrittsdiskurs ist das kein unwesentlicher Faktor, trennen
ihn doch zwei Jahrzehnte von den um 1900 Geborenen, und genau in jenen zwanzig
Jahren intensivierte sich in Europa und Amerika der Diskurs um Fortschritt, Ge-
schwindigkeit und Technologie enorm. Kubin kann als Fortschrittsskeptiker ein-
geordnet werden. Geboren in der scheinbaren Ruhe (und Überschaubarkeit) der
österreichisch-ungarischen Donaumonarchie ging diese nach seiner Einschätzung
spätestens mit dem Ersten Weltkrieg verloren, wie er noch Jahrzehnte später seinem
Freund Fritz Herzmanovsky-Orlando klagte:
„Lieber alter Freund, man kann schon sagen, in äußeren Dingen haben wir alle seit 1914
keine Ruh’ mehr, es ist eine Weltenwende erster Klasse da –“180
Nicht nur die fehlende politische Ruhe, auch die fortschreitende Technologisierung,
Modernisierung und steigende Geschwindigkeit missfielen dem Künstler, der sich
selbst klar in einer anderen Zeit verortete, als in jener, in der er faktisch lebte:
„Ach überhaupt mein Jahrhundert geht von 1770–1870, ist also leider 7 Jahre vor meiner
Geburt zu Ende gegangen –“181
Technischen Neuerungen stand Kubin mindestens skeptisch gegenüber, die Foto-
grafie hielt er nicht für Kunst und das neue Medium des Films konnte seiner Art
des „Schauens“ ebenfalls nicht entsprechen, wie er wiederum dem Freund Herz-
manovsky-Orlando 1924 berichtete.182 In zahlreichen Äußerungen und Texten des
Künstlers lassen sich weitere Verweise auf seine fortschrittsskeptische Haltung fin-
179 Alfred Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Frankfurt am Main 2009 [EA 1909], 11.
180 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt Oktober/November 1934, zit. nach Herzma-
novsky-Orlando, Briefwechsel, 272.
181 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Wernstein-Zwickledt 11.10.1914, zit. nach Herzmanovsky-
Orlando, Briefwechsel, 81.
182 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Wernstein 30.5.1924, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 231.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463