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4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 321
4.2.1 Kubin, der Krieg und das Ende der „alten Ruhe“
„Nein, ich ruhe vorläufig noch in keinem Massengrab, doch leide ich trotz allem an
‚Kriegspsychose‘. Heiliger Gott was erleben wir noch alles.“ 28
Alfred Kubin war beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 mit 37
Jahren im wehrfähigen Alter.29 Auf die Frage seines Freundes Fritz Herzmanovsky-
Orlando, ob er dem Vaterland diene, antwortete er mit dem obigen Ausspruch, der
viel an biographischer Information beinhaltet: Tatsächlich landete Kubin nicht in ei-
nem der zahllosen Massengräber dieses grausamen Krieges, trotz dreimaliger Mus-
terung wurde er nicht eingezogen. Die Musterungen waren für den Künstler nach
seiner eigenen Darstellung mit einer hohen nervlichen Anspannung verbunden,
gerade seine nervöse Disposition war es aber auch, die ihn als wehrunfähig einge-
stuft einer Kriegsteilnahme entzog. 1915 berichtete er darüber an Herzmanovsky-
Orlando:
„Daß das [Anm.: Musterung des Jahrgangs 1877] noch einmal kommen mußte, begreife
ich gar nicht!!!, bei uns ist jeder der fähig war ja bisher schon gepreßt worden. Ich per-
sönlich habe etwas größeren Gleichmuth wie im Frühjahr, da ich ja weiß mein Superarbi-
trierungsdokument30 liegt vor. – (Ein ärztl. Zeugnis das aber nicht beachtet wird habe ich
auch). Wie machst Du diese Sache? Leute wie wir beide sind eben auch wenn wir 100 x
unsere armen Leiber zur Schau stellen müssen nicht verwendbar. Ich bin allerdings seit 4
Monaten noch ärger wie gewöhnlich mit den Nerven herunter so daß ich starke Ängste
habe vor einem Anfall, der mich bei dieser Musterung, die mich letztesmal schon sehr
aufregte, befallen könnte.“31
Von der Aufregung um seine neuerliche Musterung berichtete Kubin auch Her-
mann Hesse:
28 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt 11.10.1914, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 81.
29 Die erweiterte Mobilmachung von 1914 erfasste neben den aktiv dienenden Soldaten auch die
Reservisten und Landsturmangehörigen (ehemals gediente Soldaten bis zum Jahrgang 1872). Vgl.
Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–
1918, Wien 2013, 150.
30 Erklärung der Wehr- oder Dienstuntauglichkeit.
31 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt [zw. 22.9. und 9.10.1915], zit. nach Herzma-
novsky-Orlando, Briefwechsel, 128 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463