Page - 422 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus422
„Wenn ich mich auch für Politik nicht erwärmen kann wie Du weisst, weil ich die Beweg-
gründe nicht, fast nie für rein halte, so sind Deine mir heilig, u. sie tragen den Lohn in
sich selbst.“340
4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“
KünstlerInnen?
Eingangs wurde in diesem Kapitel in Anlehnung an Ernst Kris und Otto Kurz das
Schlagwort von der „Legende vom unpolitischen Künstler“ entworfen. Die These,
das politische Selbstverständnis hänge eng mit einer aus biographischen Stereotypen
zusammengesetzten kollektiven Künstleridentität zusammen, ließ sich durch eine
Vielzahl von Aussagen verifizieren. In den dazu vorliegenden autobiographischen
Aussagen der in dieser Studie untersuchten ProtagonistInnen ging es durchwegs
weniger um die Darlegung einer individuellen Haltung als vielmehr um die sehr
grundsätzliche Botschaft, dass „der Künstler“ per se und die Politik in einem be-
stimmten Verhältnis zueinander stünden, nämlich einem klar distanzierten.
Es lässt sich also konstatieren, dass es einen über das individuelle politische Emp-
finden hinausgehenden erkennbaren Zusammenhang gibt, in dem politisches Ver-
halten mit der Identität als KünstlerIn in Zusammenhang gesetzt und damit erklärt
wird. In Bezug auf die wiederholte Distanzierung von der Politik, die sich in den
autobiographischen Stellungnahmen finden ließ, ist aber unbedingt auch der ver-
wendete Politik-Begriff an sich näher zu hinterfragen. Wie ist dieser zu verstehen,
wie war er jeweils gemeint und was drückte er aus: politische Strukturen im Allge-
meinen, parteipolitisches Agieren, die allgemeinpolitische Gesamtlage? Mit „poli-
tisch“ konnte viel gemeint sein. Oskar Kokoschkas Aussage, sich „politisch nicht
engagiert“ zu haben, steht in klarem Widerspruch zu einer Vielzahl höchstpoliti-
scher Agitationen des Künstlers. Erklärbar ist die Aussage nur, wenn sie als Unab-
hängigkeitsansage in Bezug auf Parteien oder politische Bewegungen verstanden
wird. Individualität und eine bedingungslose Unabhängigkeit waren dem Künstler
Kokoschka wichtiger als Teil einer politischen Bewegung zu sein. Von einem indivi-
duellen politischen Verhalten und einer grundsätzlichen klaren politischen Haltung
hielt ihn das keineswegs ab. Und wenn Alfred Kubin behauptete, nicht politisch zu
sein, drückte er damit seine Abscheu vor einer Politik aus, die er als Störung in sei-
nem Dasein und künstlerischen Schaffen empfand. Keineswegs bedeutete dies aber,
dass er keine politischen Entscheidungen traf, und wenn es auch nur um karriere-
340 Bilger Archiv, MB an Elisabeth Karlinsky, 4.2.1950.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463