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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life
2.1.1 Der Künstler, sein Archivar und sein Nachlass
„Materialien für eine Kubinlegende –
man sorge beizeiten für die Nachwelt.“1
Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Alfred Kubin als Paradebeispiel für Carl
Pletschs Modell eines autobiographical life2 gelten darf. Schon 1911, also im Alter
von 34 Jahren, veröffentlichte der Künstler den ersten Teil seiner Autobiographie,
die er in Etappen fortsetzen sollte. Sich selbst seiner Biographiewürdigkeit bewusst
konnte Kubin auch auf die Unterstützung anderer zurückgreifen, die ihn bei der Do-
kumentation seines künstlerischen Schaffens und Lebens unterstützten. Neben sei-
ner Frau Hedwig war dies vor allem ein junger Jurist und Apotheker aus Hamburg,
Kurt Otte, der als Bewunderer und Sammler des Künstlers zu dessen „Eckermann“3
wurde. Beginnend in den 1920er-Jahren baute Otte im Laufe der Jahre in seinem
Hamburger Haus „Am Fischmarkt 3“ ein umfangreiches Kubin-Archiv auf.4 Kubin
führte sein autobiographisches Leben somit nicht nur „in Erwartung“ künftiger Bio-
graphen, wie es bei Pletsch heißt („in anticipation of one’s biographers“)5, sondern
bereits im Beisein eines solchen.
Dass dies außergewöhnlich ist, wurde bereits zeitgenössisch wahrgenommen und
als zusätzliches Indiz für Kubins besondere Strahlkraft als Mensch und Künstler her-
vorgehoben. Der Münchner Schriftsteller und Bohemien Rolf von Hoerschelmann
1 Alfred Kubin, Text auf der Rückseite der Zeichnung „Zur Erinnerung“ (gewidmet Marianne Häut-
ler), abgebildet als Titelumschlag von Jutta Mairinger, Meine Verehrung, Herr Kubin! Geschichten
aus Zwickledt, Wernstein 2000.
2 Carl Pletsch, On the Autobiographical Life of Nietzsche, in: George Moraitis/George H. Pollock
(Hg.), Psychoanalytic studies of biography, Madison 1987, 405–444.
3 Die Bezeichnung, in Anlehnung an Goethes „Sekretär“, wurde u.a. von Hedwig Kubin verwen-
det. Vgl. Hedwig Kubin an Rolf von Hoerschelmann, 10.9.1937(?), zit. nach Eva-Maria Herbertz,
„Der heimliche König von Schwabylon“. Der Graphiker und Sammler Rolf von Hoerschelmann in
Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, München 2005, 159. Auch Ottes Mitarbeiter Paul Raabe
schrieb rückblickend: „Der österreichische Zeichner [Anm.: Kubin] fand so in dem jungen Ham-
burger Fischmarkt-Apotheker seinen Eckermann, der nur für ihn lebte, der von jedem Detail einer
Zeichnung, von jedem Brief aus Zwickledt gefesselt war.“ Paul Raabe, Erinnerungen an Kurt Otte,
in: Annegret Hoberg (Hg.), Alfred Kubin. 1877–1959, München 1990, 389–392, 389.
4 Vgl. Rolf von Hoerschelmann, Das Kubin Archiv in Hamburg, Weimar 1937.
5 Pletsch, Autobiographical Life, 415.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463