Seite - 65 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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der Mythos von einem seligen Lebensalter der Menschheit, da dieser Zustand
arkadisch unbewußt war und der religiöse Glaube an ein »zweites Lebensalter
der Menschheit«. Was einst die Götter schenkten und die Unwissenden
sinnlos verspielten, diesen heiligen Zustand erschafft sich wieder im Fron von
Jahrhunderten der ringende Geist. »Von Kinderharmonie sind die Völker
ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen
Weltgeschichte sein. Es wird nur Schönheit sein und Mensch und Natur sich
vereinigen in eine allumfassende Gottheit.« Denn – so folgert Hölderlin mit
einer überraschenden Eingebung – kein Traum kann dem Menschen zufallen,
dem nicht irgendeine Wirklichkeit entspräche. »Ideal ist, was einmal Natur
war.« So muß die halkynische Welt einmal gewesen sein, da wir sie ersehnen.
Und da wir sie ersehnen, so erschafft sie noch einmal unser Wille. Dem
Griechenland der Geschichte müssen wir ein neues zur Seite zeugen, ein
Griechenland des Geistes: selbst sein edelster deutscher Ahnherr, bildet
Hölderlin diese neue Allheimat im Gedicht.
In allen Sphären sucht nun Hölderlins jugendlicher Bote diese »schönere
Welt«. Hyperions erstes Ideal (er ist ja Hölderlins leuchtender Schatten) wird
die Natur, die allvereinende; aber auch sie vermag die eingeborne Schwermut
des ewig Suchenden nicht zu lösen. So sucht er weiter die Verschmelzung in
der Freundschaft: auch sie füllt nicht das Unmaß seines Herzens. Dann
scheint die Liebe ihm die selige Bindung zu gewähren: doch Diotima
schwindet, und so sinkt dieser kaum begonnene Traum. Nun soll es das
Heldentum, der Kampf um die Freiheit sein: aber auch dies Ideal zerschellt an
der Wirklichkeit, die Krieg zur Plünderung, Roheit und Mord erniedrigt. Bis
in die Urheimat folgt der sehnsüchtige Pilgrim seinen Göttern: aber
Griechenland ist nicht Hellas mehr, ein ungläubiges Geschlecht entheiligt die
mystische Stätte. Nirgends findet Hyperion, der Schwärmer, mehr Ganzheit,
nirgends Einklang, ahnend erkennt er das furchtbare Los, zu früh oder zu spät
in diese Welt gekommen zu sein, er ahnt die »Unheilbarkeit des
Jahrhunderts«. Die Welt ist ernüchtert und zerstückt.
Aber die Sonne des Geists, die schönere Welt, ist hinunter,
Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.
Und wie ihn nun, einem urmächtigen Zorne nachgebend, Hölderlin noch
nach Deutschland jagt, wo er selbst im einzelnen Menschen noch den Fluch
des Zerteiltseins, der Spezialisierung, der Loslösung vom heilig Ganzen des
Lebens erfährt, da erhebt Hyperions Stimme sich zu furchtbarster Warnung.
Es ist, als sähe der Seher die ganze Gefahr des Abendlandes aufsteigen, den
Amerikanismus, die Mechanisierung, die Entseelung des aufsteigenden
Jahrhunderts, von dem er so glühend die »Theokratie des Schönen« erhofft.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199