Seite - 78 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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vollkommen unpersönlich: die Kruste über der innern Lava ist noch nicht
gesprengt. Der Beginner zeigt sich durchaus als Nachahmer, Anempfinder, ja
in einem kaum mehr erlaubten Maß, denn nicht nur die strophische Form und
den geistigen Habitus borgt der Schüler von Klopstock, sondern schiebt ganze
Zeilen und Strophen unbedenklich in seine Vershefte aus den Oden hinüber.
Bald aber kommt Schillers Einfluß in das Tübinger Stift; er, von dem er
»unverständlich dependiert«, reißt ihn mit sich in seine Gedankenwelt, in
seine klassische Atmosphäre, in seine gebundene Reimform, in seinen
strophischen Schwung. Aus der bardischen Ode wird rasch die wohllautende,
geschliffene, mythologisch durchdeutete Schillersche Hymne, die
breitrollende und tönende: hier erreicht Nachbildung nicht mehr das Original,
sondern übertrifft des Meisters ureigenste Formen (mir zumindest will immer
Hölderlins »An die Natur« schöner als das schönste Schillersche Gedicht
erscheinen). Aber schon verrät ein ganz leise angeschlagener elegischer Ton
selbst in diesen schematischen Gebilden die urpersönlichste Hölderlinsche
Melodik: er braucht diesen Tonfall nur zu verstärken, sich ganz jenem
Schwung ins Höhere, ins Idealische hinzugeben, die antikische Form abzutun
und dafür die wahrhaft antike zu wählen, die freie und nackte, die sich nicht
mehr in Reime einengen läßt und das Hölderlinsche Gedicht ist geboren, das
»wehende Lied«, der reine Rhythmus.
Aber auch den letzten Rest vom Systematischen, vom Schillerisch-
Konstruktiven, den er übernommen, stößt er endlich von sich. Er erkennt das
großartig Gesetzlose, das herrisch am Rhythmus Aufströmende der wahren
Lyrik, und wenn Bettinens Berichte sonst immer unzuverlässig sind, in jener
Erzählung von Sinclair läßt sie ihn doch seine wahrsten Worte sagen. »Geist
gehe nur durch Begeisterung hervor, nur allein dem füge sich der Rhythmus,
in dem der Geist lebendig werde. Wer erzogen werde zur Poesie in göttlichem
Sinn, der müsse den Geist des Höchsten für gesetzlos anerkennen über sich
und müsse das Gesetz ihm preisgeben: nicht wie ich will, sondern wie du
willst.« Zum erstenmal ringt sich Hölderlin von der Vernunft, von dem
Rationalismus in der Dichtung frei und läßt sich überraschen von der
Urgewalt. Das Dämonisch-Überschwengliche bricht rauschend, bricht
rhythmisch durch, seit es sich vom Gesetz losgesagt und dem Rhythmus
hingegeben hat. Und nun erst quillt aus der Tiefe seines Seins, seiner Sprache
die ihm urtümliche Musik, der Rhythmus, diese chaotisch wilde und doch
eigenpersönliche Gewalt, von der er sagt, »alles sei Rhythmus, das ganze
Schicksal des Menschen sei ein himmlischer Rhythmus, wie auch jedes
Kunstwerk ein einziger Rhythmus sei«. Jede Regelmäßigkeit der lyrischen
Architektonik verschwindet, nur seiner eigenen Melodie spricht das
Hölderlinsche Gedicht orphisch nach: in der ganzen deutschen Lyrik gibt es
kaum Gedichte, die so ganz auf dem Rhythmus ruhen wie jene Hölderlins.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199