Seite - 84 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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die Dichtung die Vernunft überdauert und absolut Vollendetes im Zustand der
Zerstörung entsteht – wie manchmal (ganz selten) auch in der Natur ein vom
Blitz getroffener und bis in die Wurzeln verkohlter Baum von dem höchsten
unberührten Aste aus noch lange weiterblüht. Hölderlins Übergang ins
Pathologische ist vollkommen stufenhaft, nicht wie bei Nietzsche der
plötzliche Einsturz eines ungeheuren, bis in die Himmel des Geistes
erhobenen Baues, sondern gleichsam ein Abbröckeln, Stein um Stein, ein
Lösen des Fundaments, ein allmähliches Ins-Bodenlose-, Ins-Unbewußte-
Sinken. Es akzentuieren sich nur in seinem äußeren Gehaben gewisse
Erscheinungen der Unruhe, und diese Krisen werden immer vehementer und
folgen einander in immer kürzeren Ausbrüchen: während er in seinen
früheren Stellungen Monate, selbst Jahre verweilen konnte, werden die
Entladungen jetzt rascher. Indes in Waltershausen und Frankfurt noch Jahre,
vermag sich Hölderlin in Hauptwyl und Bordeaux nur wenige Wochen zu
halten, seine Lebensuntüchtigkeit wird immer hemmungsloser und
aggressiver: wieder wirft das Leben ihn wie ein Wrack in das Haus der
Mutter, seinen ewigen Strand nach allen Fahrten. Da reckt in letzter
Verzweiflung der Schiffbrüchige die Hand nach dem Schicksalsformer seiner
Jugend, noch einmal schreibt er an Schiller. Aber Schiller antwortet nicht
mehr, er läßt ihn fallen, und wie ein Stein stürzt der Verlassene in die Tiefe
seines Geschicks. Noch einmal wandert er, der Unerziehbare, in die Ferne
hinaus, Kinder zu erziehen, aber freudlos, ein Todgeweihter, nimmt er den
letzten Abschied voraus.
Und nun sinkt ein Schleier über sein Leben: Geschichte wird hier zur
Mythe und sein Schicksal Legende. Noch weiß man, daß er durch Frankreich
»in schönem Frühling gewandert«, und »auf den gefürchteten überschneiten
Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die
geladene Pistole neben mir im rauhen Bette« (wie er schreibt) genächtigt,
man weiß, daß er nach Bordeaux zu jener Familie des deutschen Konsuls
gelangt und plötzlich jenes Haus verlassen hat. Aber dann sinkt die Wolke
nieder und verschattet seinen Untergang. Ist er jener Fremdling gewesen, von
dem Jahrzehnte später eine Frau in Paris erzählte, daß sie ihn eintreten sah in
ihren Park und in freudigster Begeisterung mit den marmorkalten
Göttergestalten Zwiesprache halten? Ist es wahr, daß bei der Rückwanderung
ein Sonnenstich ihm die Sinne geraubt und »das Feuer, das gewaltige Element
ihn ergriffen«, daß also, wie er von sich in wissendstem Symbole sagte,
»Apoll ihn geschlagen«? Haben wirklich Räuber am Wege ihm Kleider und
das letzte Geld genommen? Auf alle diese Fragen wird niemals Antwort sein,
eine Wolke hängt über seiner Heimfahrt, seinem Untergang. Nur dies weiß
man, daß eines Tages bei Matthisson in Stuttgart einer eintritt, »leichenblaß,
abgemagert, mit hohlem, wildem Blick, langem Haar und Bart und gekleidet
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Titel
- Der Kampf mit dem Dämon
- Untertitel
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1925
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 202
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199