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Revolte und Reife 024
Rolf war nicht nur von der überaus reizvollen Landschaft, sondern auch von der – wie
er beurteilte – romantischen Geschichte des Landes beeindruckt. Insbesondere faszinier-
ten ihn die sogenannten Ćele Kulas, die Schädeltürme. Als die Türken noch die Herrschaft
über das Land ausübten, pflegten sie an den Eingängen zu Dörfern und Städten Pyra-
miden aus Schädeln von getöteten Einheimischen, die sich in irgendeiner Form wider-
setzt hatten, zu errichten. Die größte dieser Pyramiden hat Rolf nach eigenen Angaben
in Mostar gesehen. Wie er später erzählte, hatte sich als Reaktion auf diese Hinrichtun-
gen eine eigene Form der »Blutrache« unter der weiblichen Bevölkerung herausgebil-
det: Wenn eine Frau ihren Mann durch eine türkische Aggression verloren hatte, soll sie
versucht haben, einen Türken zu umgarnen und in ihre Behausung zu locken. Im ge-
eigneten Moment zog sie jedoch einen kleinen Dolch aus ihrem Ärmel und tötete den
»Verehrer«. Immer wenn so eine Unternehmung gelungen war, durfte sich die Frau der
Überlieferung zufolge einen großen Granat an ihren mit Juwelen besetzten Gürtel hef-
ten, der Teil der Nationaltracht war. Nach dem Tod der Frau wurde diese Trophäe so-
dann in die Dachsparren der lokalen Moschee gehängt.
Rolf war fasziniert von diesen Gürteln und den Geschichten, die sich darum rank-
ten, und es gelang ihm sogar, einen dieser Gürtel nach Hause zu bringen. Durch all die
Wirren des Ersten und des Zweiten Weltkrieges gerettet, wurde dieses kostbare, orien-
talisch-märchenhaft anmutende Stück im Jahr 2006 dem Völkerkundemuseum in Wien
übergeben.
Ziel von Rolfs ausgedehnter Wanderung durch Bosnien-Herzegowina war die dal-
matinische Küste, von wo er mit dem Schiff nach Triest fahren wollte, um sodann nach
Hause zurückzukehren. Allerdings fand er das Geld, das ihm von seinem Bruder Remi-
gius nach Dalmatien geschickt werden sollte, am Bestimmungsort nicht vor. Rolf war da-
her gezwungen, auch die Rückreise zu Fuß zurückzulegen, bis er schließlich Levico in
den südlichen Dolomiten erreichte, wo er sich von seinem Cousin Geld für die weitere
Heimreise ausborgen konnte.
Diese Reise bildet gleichsam Rolfs Feuertaufe, in der er nicht nur seine hervorra-
gende körperliche Konstitution unter Beweis stellte, sondern auch seine unerschütter-
liche Ruhe und Entschlusskraft, wenn es darum ging, mit Schwierigkeiten – welcher Art
und wo auch immer – fertigzuwerden. Etliche Jahre später sollten ihm diese Fähigkei-
ten helfen, weit größere Probleme und Herausforderungen unbeschadet zu bewältigen.
Rolf räumte allerdings schon damals viel Zeit seinen sportlichen Betätigungen ein.
Von seinem Mentor, dem erwähnten Kaplan, zunächst als Mittel erdacht, die über-
bordenden Kräfte seines Schützlings sinnvoll zu kanalisieren, fand Rolf in der Folge
eine große Befriedigung in der körperlichen Ertüchtigung. Im Winter betätigte er sich mit
Eislaufen, Schifahren, Barrenturnen, Ringen und Fechten. Im Sommer ging er schwim-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273