Seite - 38 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Bild der Seite - 38 -
Text der Seite - 38 -
Revolte und Reife 038
Nach mehreren Wochen erfolglosen Suchens war klar, dass keiner von Rolfs Kolle-
gen bereit war, dieses Angebot anzunehmen, doch beschloss Rolf nun überraschend
selbst, nach Bukarest zu gehen und in die Firma Franz Schmidts’ einzutreten. Der erns-
te Tonfall Rolfs, mit dem er Hermine um eine Unterredung ersuchte, führte zunächst al-
lerdings zu einem peinlichen Missverständnis: Hermine ging nämlich davon aus, dass
nun endlich ein Heiratsantrag erfolge, wie ihre Erinnerungen belegen. Verblüfft muss-
te sie stattdessen zur Kenntnis nehmen, dass ihr »Lehrer« nun selbst beschlossen hatte,
in die Firma ihres Vaters einzutreten, und das ernsthafte Gespräch keineswegs die von
ihr erwartete Richtung nahm. Da Rolf in Beziehungsfragen von seiner gewohnten Tat-
kraft und Entschlussfreude offensichtlich gründlich im Stich gelassen wurde, konnte er
sich nämlich nach wie vor nicht zu einem Heiratsantrag entschließen, obwohl sein Ent-
schluss, seinen Lebensmittelpunkt nach Bukarest zu verlegen, wohl nicht nur bei Hermi-
ne eine entsprechende Erwartungshaltung ausgelöst haben dürfte.
Letztlich hatte wohl Hermine den Ausschlag gegeben und das komplizierte Verhält-
nis der beiden einer Lösung zugeführt, indem sie Rolf mitteilte, dass sie nun bald – un-
geachtet seiner weiteren Pläne – die endgültige Heimreise antreten werde. Bei dem Ge-
danken an Hermines Abreise scheint sich Rolf nämlich endlich zu einer Entscheidung
durchgerungen zu haben, denn er erschien kurze Zeit später mit einem Rosenstrauß an
der Adresse, wo Hermine ein Zimmer gemietet hatte. Hermine lag jedoch ausgerechnet
zu diesem Zeitpunkt mit einer Grippe im Bett, und da ein Herrenbesuch in so einer Si-
tuation undenkbar war, wurde Rolf von der Zimmervermieterin kurzerhand abgewiesen.
Als Hermine wieder gesund war, nahm Rolf einen neuen Anlauf und erklärte ihr weit-
schweifig, dass ihm die gemeinsame Zeit vor Augen geführt habe, dass er ohne sie nicht
mehr leben könne, und fragte sie nun endlich, ob sie sich vorstellen könne, ihr künftiges
Leben mit ihm zu teilen. Nun zierte sich Hermine und verlangte eine Nachdenkzeit, ja
sie ließ Rolf sogar noch in Ungewissheit, als sie endgültig nach Bukarest abreiste. Einige
Zeit nach Abfahrt des Zuges öffnete sich die Türe ihres Abteils, und ähnlich wie wenige
Monate zuvor stand Rolf neuerlich vor ihr. Zunächst erklärte er, dass er Hermine wäh-
rend des dreistündigen Aufenthaltes in Budapest mit ihrem Gepäck behilflich sein wol-
le. Nachdem er Platz genommen und eine Weile hatte verstreichen lassen, erkundig-
te er sich dann aber doch, ob sich Hermine seine letzthin gestellte Frage noch einmal
durch den Kopf habe gehen lassen. Wie Hermine Jahrzehnte später ihrer Tochter erzähl-
te, habe Rolf ihre Hand dabei gestreichelt, worauf sie in Tränen ausgebrochen sei – und
damit zu Rolfs größter Verwirrung ihr »Ja« gegeben habe.
Laut Hermines Berichten war auch ihre Familie sehr zufrieden mit ihrer Wahl, und
insbesondere der Vater war froh, in seinem künftigen Schwiegersohn einen qualifizier-
ten und innovativen Mitarbeiter gewonnen zu haben. Der von Rolf selbst entworfene
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273