Seite - 42 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Bild der Seite - 42 -
Text der Seite - 42 -
Mobilisierung und Krieg 042
machte  ? Rolf hatte in seiner Jugendzeit einen erstaunlichen Reifeprozess durchlaufen.
Aus dem schwierigen, undisziplinierten Kind hat sich eine geradezu konträre Persönlich-
keit entwickelt, deren bestimmende Charaktermerkmale Selbstdisziplin und Verantwor-
tungsbewusstsein geworden waren. In dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Rolf auf-
wuchs, stellte zudem die moralische Forderung zur PflichterfĂĽllung einen wesentlichen
Bestandteil der Erziehung dar – eine Forderung, die in der militärischen Ausbildung Rolfs
eine zusätzliche Verstärkung erfahren hatte und die in einen Ehrenkodex mündete, dem
sich ein Offizier der k. u. k. Monarchie auf Lebenszeit verpflichtet fĂĽhlte.
Dementsprechend verantwortungs- sowie pflichtbewusst und mit konsequenter
Selbstdisziplin stellte sich Rolf den neuen Anforderungen, wobei eine umsichtige Prag-
matik sein Handeln und Denken zusätzlich bestimmen sollte. Nach Erhalt seines Einbe-
rufungsbefehls blieben ihm nur wenige Tage Zeit, um seine häuslichen und beruflichen
Angelegenheiten zu ordnen, ehe er sich bei seiner Einheit in Neumarkt, heute Egna in
der Nähe Bozens, zu melden hatte.
Hermine befand sich zu dieser Zeit in Busteni, einem Ort in der Nähe Bukarests, wo
sie mit ihrer kleinen Tochter Maja, ihren Schwägerinnen und deren Kindern den Sommer
verbrachte. Als Rolf die Reise antrat, machte er daher zunächst Zwischenstation in Bus-
teni, um sodann in Wien auch von seiner Mutter und seinen Geschwistern Abschied zu
nehmen. Nach mehreren Tagen Bahnfahrt langte er schlieĂźlich am 3. August bei seiner
Einheit in Südtirol an. Mit dem Bericht über diesen Zeitraum lässt Rolf auch sein Feldta-
gebuch beginnen, das in den folgenden Monaten sein ständiger chronistischer Beglei-
ter sein wird und heute eine exakte Nachzeichnung seiner Kriegserfahrungen erlaubt.
Aufschlussreich ist sein Feldtagebuch nicht nur als biografisches Dokument, son-
dern ebenso als authentisches Zeugnis der ungeheuren und organisatorisch zum Teil
nur schwer nachvollziehbaren militärischen Geschehnisse dieser Zeit. Dabei ist Rolf nie-
mals an spektakulären Schilderungen der Schlachten interessiert und in seinen Äuße-
rungen stets weit von jeder kriegshymnischen Verklärung entfernt, welche das öffentli-
che Klima insbesondere zu Kriegsbeginn beherrschte. Stattdessen neigt Rolf dazu, die
tägliche Anstrengung und Mühsal des Feldlebens und die in den Gefechten immer wie-
der erlebte Bedrohung mittels eines betont sachlich-deskriptiven Stils darzulegen und
auf diese Weise wohl auch psychologisch zu bannen. Analog verfuhr Rolf offenbar mit
seinen eigenen Emotionen: Er wehrte seine Betroffenheit ab, indem er diesbezĂĽgliche
Gedanken erst gar nicht in Worte fasste. Auffallend nämlich ist, dass sich in Rolfs Tage-
buch trotz aller Schrecken, Nöte und Gefahren keine Klagen oder auch nur ein Ausdruck
von Unzufriedenheit finden und er seinem Tagebuch auch nicht anvertraut, inwieweit er
sein Zuhause, seine Familie oder seine Arbeit als Architekt vermisst.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273