Seite - 43 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Bild der Seite - 43 -
Text der Seite - 43 -
Der Weg an die Ostfront 043
Anhand der Perspektive Rolfs wird daher auch der Leser zum sachlich-distanzier-
ten Zeugen der Kriegshandlungen und Schlachten, in die dieser junge Architekt invol-
viert war. Darüber hinaus gewährt Rolf Einblick in eine Reihe von »Alltagsproblemen«,
die der Krieg an der Ostfront für die Soldaten der österreichisch-ungarischen Monar-
chie mit sich brachte, wohingegen die Gedankenwelt des jungen Architekten und Fami-
lienvaters völlig verborgen bleibt.
Gerade diese auffallende Verschlossenheit im persönlichen Bereich scheint Rolf je-
doch dabei geholfen zu haben, sich einerseits gegen die Zerstörung seiner künstleri-
schen Potenziale zu schützen und andererseits auch aus scheinbar ausweglosen Ge-
schehnissen noch einen Sinn und subjektive Ziele zu generieren – eine Fähigkeit, die
auch seinen späteren Lebensweg mehrfach auszeichnen wird.
Letztlich erzeugt das Feldtagebuch das Bild eines Menschen, der mit manchmal fast
staunender Distanziertheit die Vorgänge rund um sich her registriert, der den alltägli-
chen Schrecken in die strenge Ordnung der reinen Chronologie und verknappenden
Faktizität zu bannen sucht und der die schicksalhafte Willkür und Unordnung rund um
sich mit einer besonders strengen Kontrolle der eigenen Regungen und Affekte quittiert.
Allerdings hat diese Unbestechlichkeit auch einen starken Zug von Indifferenz, indem
Rolf letztlich weder für den Krieg noch gegen ihn zu sein scheint, indem bei ihm kein
Hass gegen den Feind und kaum Mitleid mit den Verwundeten und Gefallenen spür-
bar wird. Eine Passage aus Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit« drängt sich
angesichts dieser nüchternen Schreibhaltung in Rolfs Tagebuch geradezu auf, indem
es bei Karl Kraus heißt: »Ist es denn nicht spürbar, wie aus diesem ganzen Ensemble, in
dem mangels eines Helden jeder einer ist, sich jeder mit seinem Einzelschicksal davon-
schleicht
? [
…
] Nie war eine riesenhaftere Winzigkeit das Format der Welt. Die Realität hat
nur das Ausmaß des Berichts, der mit keuchender Deutlichkeit sie zu erreichen strebt.«7
Der Duktus, in dem Rolf selbst die persönlichsten und emotional erschütterndsten
Erlebnisse abhandelt, wird bereits am Beginn des Feldtagebuchs erfahrbar, wo er den
Zeitraum rund um seine Einberufung beschreibt. Auffallend – und für seinen Tagebuch-
stil durchwegs charakteristisch – ist, dass Rolf alle notwendigen Tätigkeiten und formalen
Abläufe exakt festhält und selbst bei der Darstellung des Abschieds von seiner Frau die
Perspektive des minutiösen Beobachters einnimmt, gleichzeitig aber doch die Reaktio-
nen seines Visavis einfühlsam registriert und interpretiert. Allerdings schlägt Rolfs Hang
zur »Objektivierung« selbst hier insofern durch, als er seine Frau als einzige der Personen,
von denen er sich nun für längere Zeit verabschieden muss, nie mit ihrem persönlichen
Vornamen erwähnt. Hermine bleibt, obgleich am häufigsten erwähnt, im Tagebuch kon-
7 K. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt / Main 1986, S. 209
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273