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Kriegsgefangenschaft 092
auch persönlich erst zu überwinden galt. Auffallend allerdings ist, dass die Berichte fast
ausnahmslos von Offizieren stammen, zumal diese in Gefangenschaft deutlich bessere
Bedingungen vorfanden als die gewöhnlichen Mannschaften. Insofern decken sich die
publizierten Eindrücke mit Sicherheit nicht mit jenen Erfahrungen, die die überwiegen-
de Mehrzahl der kriegsgefangenen Soldaten machte. Erst in jüngster Zeit wurden eini-
ge wenige Tagebücher von einfachen Soldaten publiziert – allerdings nur auszugswei-
se und in einer zumeist von Angehörigen überarbeiteten Form.
Die heute noch greifbaren Werke ehemaliger Offiziere zeigen ein recht unterschied-
liches Sprach- und Reflexionsniveau und muten in ihrem Pathos zum Teil befremdend
an. Der historische Erkenntniswert dieser Publikationen wird deshalb immer durch den
Umstand eingeschränkt, dass der bereits auf die Offiziersperspektive eingeengte Blick
zusätzlich subjektiviert wird, um die Gefangennahme psychisch zu verarbeiten.
Ähnliche Bewältigungsmechanismen für die kollektiven Traumata griffen zum Teil
wohl auch bei der Veröffentlichung von authentischen Tagebüchern. Denn hier wurden
keineswegs nur redaktionelle Eingriffe vorgenommen und beispielsweise nur Schreib-
fehler der Originalaufzeichnungen ausgemerzt, sondern in der Regel wurden die Ein-
träge auch stilistisch und inhaltlich gründlich überarbeitet.
Eine der bekanntesten und nach dem Krieg meistgelesenen Publikationen stammt
von Burghard Breitner und trägt den Titel »Unverwundet gefangen«. Das Werk erleb-
te mehrere Auflagen und gibt recht eindringlich Breitners Erfahrungen als Arzt in ver-
schiedenen Gefangenenlagern wieder. Im Vordergrund steht letztlich aber seine eben-
so pathetisch wie chauvinistisch vorgetragene Verzweiflung über die Demütigung der
unverwundeten Gefangennahme. Breitner ist fortwährend »gewürgt von Schande und
Scham« ( S. 75 ) und lässt den Leser über seine Seelennöte wissen: »Wie oft habe ich
mich in diesen Tagen ermannt, habe mich aus aller Gebrochenheit wieder emporgefun-
den – wenn ich die Wunde an meinem Leib suchte, die Wunde suchte, die mich wehr-
los gemacht hätte«. ( S. 88 ) Zu dieser Schande kommt der Schmerz, »vielleicht nie mehr
im Felde stehen; nie mehr erleben, nie mehr beweisen [ zu ] können, dass ich zum Op-
fer bereit bin, nie mehr den Jubel miterleben [
zu ] können, den nur letztes Wagen und
freieste Tat bedingen«. ( S. 90 ) Erschreckend und zugleich charakteristisch ist Breitners
Hass, den er den Russen, die er mit allen denkbaren Schimpfwörtern belegt, entgegen-
bringt: »Was mich die heilige Pflicht aller dünkt, denen es vergönnt sein wird, lebend
dies Land zu verlassen: Haß säen [ … ] Haß bei Kind und Kindeskindern gegen die Hen-
kersfaust dieser Horde, die sich Staat nennen.« ( S. 113 )
Ganz anders liest sich etwa die Arbeit von Franz Karner mit dem Titel: »Ostsibirien: Das
Leben und die Tätigkeit in einem Kriegsgefangenen-Lager«. Dieses schmale Bändchen
wurde schon im Jahr 1917 publiziert und berichtet zunächst über die gute Ernährung der
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273