Seite - 121 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Die Jahre in Sibirien 121
unser Kor sehr gut, und sein Leiter, Lehrer aus Teplitz hat ein Kriegslied vorzüglich ver-
tont. Früh morgens fiel der erste wirkliche Schnee. 30 cm hohes Schneepulver, daß aber
vom Wind unausgesetzt getrieben wird, so daß nachmittags schon nurmehr Wechten
und Anwehungen, große Stellen aber bloß sind.
6. Dez. Mein Zimmergenosse Siegl hat gegen Morgen einen furchtbaren Herzkrampf der
über eine Stunde dauert und entsetzlich aussieht. Leider hält er, wie alle solche Kran-
ke, die Weisungen des Arztes für dumm und bringt nicht den Willen auf das Schädliche
zu lassen. So trinkt er den ganzen Tag Thee und raucht Zigaretten. – So kalt, daß man
nicht länger als eine halbe Stunde wo in Sonne und Windschatten aushält. Einige Her-
ren haben sich schon weiße Nasen geholt, die sie dann lange mit Schnee reiben müs-
sen. Bereits unter 40 ° C.
8. Dez. Nachmittags Kabaret in unserem Sobranje-Saal27, Mannschaft leistet sehr gutes.
4 American-Girls – Nationaltänze – Tangopaar, polnische Sänger – ungarische Schauspie-
ler – Violinvortrag – Heurigensänger – Kapelle. Ein Offizierdiener als Dame ganz einziger
gut. Nach der Vorstellung tanzen noch einige Herren ein paar Runden. War recht froh
und gelungen als Abwechslung in unserer Öde. War vormittags, bei starker Kälte län-
ger draußen und habe mir das linke Ohr erfroren, ohne Schmerzen verspürt zu haben.
9. Dez. Die Wachmannschaft in unserem Haus muß wieder einmal aus der Mandschu-
rei Alkohol bekommen haben, denn die Nacht durch machen sie großen Lärm und sind
morgens noch betrunken. Der Starschi hat besonders schwer geladen, sein Zimmer, das
meinem anschließt ganz beschmutzt, und gefährdet in der anstoßenden Küche unser
Geschirr. Diese Leute trinken schon lediglich um des Alkohols und des Rausches selbst.
11. Dez. Es soll ein General inspizieren gekommen sein. Vormittags kommt ein Kapitän
sich alles bei uns ansehen, ist recht freundlich und verspricht uns besonders behilflich
zu sein, daß wir wenigstens einen Vorschuß bekommen, nachdem wir schon zwei Mo-
nate keine Gage bekamen. Leider ist er so schwer geladen, daß wir nicht viel auf sein
Versprechen hoffen können.
27 Die Sobranje Wien ist eine 1883 gegründete Vereinigung der Wiener Rechtsanwälte zur No-
minierung der Kandidaten für die Kammerwahlen. Als Name für diese informelle Einrichtung
wählten die damaligen Advokaten die Bezeichnung des Bulgarischen Parlaments, das seit 1879
aufgrund eines direkten und allgemeinen Wahlrechtes gewählt wurde. Auf der anderen Seite
war »Sobranie« eine bekannte russische Zigarettensorte. In welchem Zusammenhang die Be-
zeichnung des Saales gewählt wurde, konnte nicht eruiert werden.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273