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Die Jahre in Sibirien 129
in jedes Zimmer unter allen erdenklichen Vorwänden, endlich wird die Bühne von rus-
sischen Soldaten abgerißen und das Holz fortgetragen, wobei aber wieder die Hälfte in
unsere Holzkammer wandert. – Es kommt auch immer mehr der Grund hervor: Erstens
scheinen die russischen Offiziere beleidigt gewesen zu sein, weil man unterließ sie ein-
zuladen; zweitens müßen sie an der Front oder sonst politisch eine Schlappe erlitten ha-
ben, denn das haben sie immer durch Maßnahmen an den Gefangenen wettzumachen
gesucht. – Gott strafe sie ! Heißt es bei uns immer.
Mit den hier gemachten Andeutungen über eine mögliche »Schlappe« der russischen
Offiziere dürfte Rolf auf die »Neujahrsschlacht in Galizien« anspielen: Mitte Dezem-
ber 1915 hatten die russischen Truppen zwischen Czernowitz und dem unteren Dnjes-
tr auf einer Breite von 130 Kilometern einen Vorstoß auf die österreichisch-ungarische
Front begonnen. In heftigen Kämpfen wurde die russische Offensive von den Mittel-
mächten jedoch abgewehrt, und am 15. Jänner 1916 erfolgte der Rückzug der russi-
schen Einheiten.
Erst mehr als drei Wochen nach diesem Zwischenfall fährt Rolf mit seinen Tage-
buchaufzeichnungen fort:
8. Feb. Wir hatten einige Herren ausgesucht, um nach Tschita zur Zahnärztin fahren zu
dürfen. Heute um ½ 8h früh schickt man nach uns, um 8h müssen wir beim Komman-
danten sein, um wegzufahren. Hier geht Alles nötige außerordentlich langsam, aber un-
nötiges oft plötzlich. Wir fahren 7 Herren mit 2 Konvois mit Personenzug II. Klasse. Sehr
interessant, wie es Tolstoi beschreibt. Fast alle Mitfahrenden schon eingezogen, aber je-
der nur durch irgendein Kleidungsstück, das eben an ihm schon zu schlecht gewesen
war, und durch ein soletes, militärisches ersetzt worden war, erkennbar. In unserem Wa-
gon lag ein bewusstlos betrunkener Mann steif am Boden in einer großen Lache alle
Durchgehenden mussten über seine Füße steigen, er selbst aber war erst gegen Abend
im Stande auf die Füße gebracht zu werden. In unserem Abteil ist einer im Säuferdeliri-
um, gutmütig, aber lästig und die nebensitzenden müssen ihn immer abfangen damit er
nicht den Wagen verlässt. Einige Andere besonders ein Matrose, scheinen auch schwer
getrunken zu haben, aber darauf geaicht zu sein. So sieht das Alkoholverbot aus ! Nach
24stündiger Fahrt sind wir in Tschita, unserer nächstgelegenen Stadt.
9. Feb. 8 Uhr morgens angekommen. Man führt uns ins russische Spital. Nach stunden-
langem Warten erklärt ein Arzt, daß im Spital kein Zahnarzt, und man auch nicht hinaus
kann. Er weiß nicht, was er mit uns machen soll. So führt man uns zum Stadtkomman-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273