Seite - 178 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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nem modernen Touristenzentrum, und wie sich herausstellte, eröffnete sich sogleich für
Rolf ein lohnendes Tätigkeitsfeld.
Aus heutiger Sicht erscheint es geradezu unglaublich, dass Rolf an der Entwicklung
des kleinen, ehemaligen Fischerdorfes, das später auch für die Kommunisten zum be-
gehrten Luxusbadeort wurde, einen wesentlichen Anteil hatte. Wahrscheinlich durch
die Vermittlung des hilfreichen Polizeipräfekten erhielt Rolf nämlich bereits kurze Zeit
nach seiner Ankunft das Angebot, als Chefarchitekt bei der Firma Shing Ming Co. tä-
tig zu werden, wobei er sowohl eigene Entwürfe ausarbeiten als auch als Bauleiter tä-
tig sein sollte. Es galt nämlich, für den Ausbau des Badeortes das Straßennetz, diver-
se öffentliche Gebäude, Hotels, Kaffeehäuser, Badehäuser, dekorative Brücken etc. zu
planen und zu realisieren. Rolf zögerte nicht lange. Mit großem Elan stürzte er sich in
seine Arbeit, seine Tätigkeit faszinierte ihn und ließ ihn alles ringsum vergessen – wo-
mit er seine und die Familie Hermines gründlich vor den Kopf stieß. Denn obwohl er
wusste, dass seine Frau, seine Mutter und seine Schwester jahrelang sehnlichst auf das
Wiedersehen gehofft hatten und sein Schwiegervater und sein Schwager ihn auch als
Partner in der Firma zurückwünschten, dachte er gar nicht daran, seine Heimreise zu
planen. Stattdessen bat er seine Frau, zu ihm nach China zu kommen. Über diese Wen-
de, welche das lang ersehnte Wiedersehen nehmen sollte, war Hermine zunächst äu-
ßerst irritiert, und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Nicht zuletzt die Rücksicht
auf ihre und Rolfs Familie, bei denen sie all die Jahre, die Rolf abwesend war, Gebor-
genheit gefunden hatte, bewog sie schließlich, die Reise nicht anzutreten, sondern ih-
ren Mann dringend zur Rückkehr aufzufordern. In gewisser Weise verstand sie Rolfs
Begeisterung über seinen Tätigkeitsbereich, den er sich neu erschlossen hatte, und sie
stellte ihm auch in Aussicht, ihm eventuell nach China zu folgen – allerdings mit der
unverhohlenen Hoffnung, dass er sich alles anders überlegen werde, wenn er sich erst
einmal zu Hause befinde.
Rolfs Hoffnung, dass Hermine kurzerhand in China angereist komme, damit er seinen
beruflichen Ambitionen nachgehen könne, erwies sich deshalb zunächst einmal als trü-
gerisch. In einem undatierten Tagebucheintrag notiert Rolf, dass er sich schließlich ent-
schieden habe, nach Europa zu reisen »nachdem Mädy auf meine Aufforderung nach
China zu kommen, absagt und mein Heimkommen für nötig hält«.
Da sich der Briefverkehr über Monate hingezogen hatte, hat inzwischen Rolf mit ei-
ner Wettbewerbsbeteiligung auf sich aufmerksam gemacht. Zufällig hat er bereits in den
ersten Tagen nach seiner Ankunft in Peitaiho den deutschen Architekten Karl Behrendt
kennengelernt, und da im Zusammenhang mit dem Ausbau des Badeortes gerade für
ein »Badehotel ersten ranGes« ein Wettbewerb ausgeschrieben worden war, beschlos-
sen die beiden Architekten, gemeinsam ein Projekt einzureichen. (Abb. 78)
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273