Seite - 185 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 185
möglich war. Nach einer Nacht in einem Hotel erreichte das Ehepaar an Bord eines bri-
tischen Schiffes schlieĂźlich am 1. August 1921 Tientsin.
Rolf und Hermine hatten vor, zunächst in ein Hotel zu ziehen, um sodann eine ge-
eignete Wohnung zu suchen. Allerdings erfuhren sie bei ihrer Ankunft, dass von Rolfs
Bürokollegen während seiner Abwesenheit bereits eine Wohnung gefunden und ange-
mietet worden war. Da zahlreiche ehemalige russische Kriegsgefangene zunächst den
Weg nach Tientsin fanden und, wie gesagt, auch die zuvor vertriebenen Deutschen ver-
mehrt zurĂĽckkehrten, herrschte damals groĂźe Wohnungsknappheit, und eine Wohnung
zu finden, die einigermaßen westeuropäischen Standards entsprach, war dementspre-
chend schwer. Mit Spannung bestieg daher das Ehepaar eine Rikscha – was Rolf und
Hermine dann sahen, ĂĽbertraf jedoch alle ihre Vorstellungen, wie Hermine ausfĂĽhrlich
in dem oben erwähnten Brief Rolfs Mutter schildert: »Da Rolf gleich vom nächsten Tag
unserer Ankunft in einem Wust von Arbeit versank, sass ich da – alleine sozusagen, zwi-
schen ödesten 4 Wänden die Du Dir nur denken kannst. [  …  ] Ich glaube, auf jeden halb-
wegs ordnungsliebenden Europäer hätte die Umgebung deprimierend gewirkt [  …  ] Wir
haben ein Schlafzimmer – Speisezimmer und sog. Empfangszimmer. Dazu Wirtschafts-
räume. – Aber in welchem Zustand  ! O frage nicht 
! Erstmal damit Du Dir einen Begriff
machen kannst – war die Wohnung immer vermietet – zuletzt an Russen, die ja bekannt-
lich alles den Dienstboten überlassen. – Nr. 1 das Schlafzimmer  ! – Ein Kunterbunt von
schwarzbraun gestrichenen Möbeln, dazwischen eine gelbe Kommode und Bett, und ein
schwarzer Waschtisch. – Entengrün gestrichene Wände, der Sockel in dunkelgrüner Öl-
farbe mit schwarzem Fries – dieses in lieblicher Wiederholung in allen Zimmern – dazu
an den Wänden Öldrucke, Haasen, Wildenten ( 
Bilder Jagdstücke 
) dunkelrote verblichene
staubgetränkte Portieren grossgeblümte ordinäre zerrissene Spitzenvorhänge á la Haus-
meisterwohnung. – Nun dieser grenzenlose vorsintflutliche Geschmack wäre eher zum
Lachen, wenn er nicht alles so unwohnlich gestalten würde. – Aber der Schmutz 
! Wie sah
alles aus – die Böden zerrissener, abgeschabter Linoleumbelag  ! Mit vieler vieler Mühe
gelang es denn, dem Ganzen ein einigermassen europäisches Aussehen zu verleihen.«
Rolf, der einerseits während des Krieges und der Gefangenschaft gelernt hatte, sei-
ne Ansprüche herunterzuschrauben, und andererseits sowieso kaum zu Hause war –
er arbeitete täglich 12 bis 14 Stunden –, wirkte hingegen in den paar Zeilen, die er dem
Brief Hermines hinzufügte, recht zufrieden: »Ich bin natürlich sehr angehängt und nur
zum Speisen daheim und muß oft auch noch abend arbeiten oder fort. Mädy hält sich
aber trotz des vielen Alleinseins recht tapfer.« Was Rolf in zwei Sätzen mitteilte, klingt
bei Hermine dann so: »Wie oft ist mir um Rolf bange da er so intensiv arbeitet – und
ich möchte am liebsten bremsen – aber nun, da ich so ganz den Sinn der Sache [  Rolfs
prekäre finanzielle Lage 
] erfasst habe – schweige ich zu allem. – Es heisst sich beschei-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273