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Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 187
konnte, da sie sich, wie sie betont, vor Heimweh »wie gelähmt« gefühlt habe und daher
keinen »vernünftigen Satz zu Papier« bringen konnte.
In ganz China war seit Jahrhunderten die Errichtung von Palästen für den Kaiser und
den Adel sowie Tempeln die wichtigste monumentale Bauaufgabe geblieben, und deren
Strukturprinzipien sowie bestimmte Merkmale haben sich im Laufe der Zeit kaum verän-
dert. Die Gebäude waren streng symmetrisch angelegt und lagen immer in – möglichst
ausgedehnten – Anlagen mit Höfen und Wegfluchten. Sie waren zumeist aus Holz er-
richtet und mit reichem Schnitzwerk und Malereien versehen. Charakteristisch sind die
geschwungenen, weit auskragenden Dächer, die zum Teil mehrstöckig übereinander an-
geordnet waren. FĂĽr die komplizierten Konstruktionsverfahren gab es detaillierte Klassi-
fikationssysteme, die an die Säulenordnungen der Antike erinnern.
In der chinesischen Altstadt Tientsins sind etwa der Tempel des GroĂźen Mitleids aus
dem 17. Jhd., der Palast der Himmelskönigin aus dem 14. Jhd. sowie der konfuzianische
Tempel Wen Miao ( 
1436 erbaut 
) durchwegs im typisch chinesischen Stil prachtvoll gestal-
tet und spiegeln, wenngleich natĂĽrlich in bescheidenerem AusmaĂź als etwa die Palast-
anlagen Pekings, die typische Kunst dieses Landes wider. Die in der Altstadt gelegenen
Wohnhäuser der chinesischen Bewohner waren allerdings schlichte und schmucklose,
ebenerdige Gebäude, die um einen oder mehrere Innenhöfe gruppiert waren.
Nach dem Ende der Opiumkriege war Tientsin jedoch erheblich ausgebaut wor-
den, und die Stadt erlebte in den folgenden Jahrzehnten einen atemberaubenden
Aufschwung. Durch die erzwungene Ă–ffnung des Hafens und die Errichtung der Kon-
zessionen war sie zu einem der wichtigsten Handelsplätze Nordchinas und bald schon
zu einem bedeutenden Industriezentrum geworden. Denn von den Kolonialherren wur-
de eine groĂźe Anzahl von neuen technischen sowie wirtschaftlichen Errungenschaften
eingefĂĽhrt. Um nur einige zu nennen: Es wurde eine Reihe von bedeutenden Fabri-
ken errichtet (  1860 erste Waffen- und Munitionsfabrik  ), es entstand die erste moder-
ne Marineflotte (  1867  ), das erste Postamt Chinas ( 
1876  ), Telegrafen- und Telefonleitun-
gen wurden verlegt ( 
1879 
), das erste U-Boot (  1880  ) und die erste Dampflokomotive
Chinas (  1881  ) wurden in Tientsin erzeugt, eine Eisenbahnlinie ging in Betrieb ( 
1888  ), es
entstanden eine Militärakademie ( 
1885  ), Universitäten (  Peiyang Universität, 1895  ) so-
wie verschiedene Fachschulen (  Fachschule für Eisenbahner, 1897  ), 1906 wurde die ers-
te staatliche Münzanstalt Chinas eröffnet, 1904 fuhr die erste elektrische Straßenbahn
in der Stadt, etliche BrĂĽcken wurden gebaut, und nach dem Ersten Weltkrieg wurde
das erste Naturkundemuseum Chinas eröffnet (  1922  ) sowie ein Stromkraftwerk in Be-
trieb genommen (  1922  ).
NatĂĽrlich erforderten diese Einrichtungen auch umfangreiche bauliche MaĂźnahmen.
Die kunstvolle Spezialisierung auf ein bis ins Detail ausgeklĂĽgeltes Holzkonstruktions-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273