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verfahren, d. h. diese hoch entwickelte chinesische Handwerkskunst, lieĂź sich fĂĽr das
19. Jahrhundert allerdings nur mehr beschränkt anwenden. Es fehlte die Erfahrung be-
zĂĽglich neuer Bauaufgaben, moderner Konstruktionsweisen, der kĂĽnstlichen Erzeugung
von Baustoffen und deren Verarbeitung sowie der Anwendung modernen Materials, wie
Stahl und Glas. Mit den westlichen Handelsunternehmern und Kolonialherren waren
Fachkräfte aller Sparten nach Tientsin gekommen, und insbesondere Ingenieure und Ar-
chitekten fanden ein breites Betätigungsfeld vor. Denn es waren nicht nur für die genann-
ten Einrichtungen entsprechende Gebäude zu errichten, sondern die Konzessionsgebie-
te mussten für die Bedürfnisse der ausländischen Bewohner angelegt und ausgebaut
werden. Die einzelnen Distrikte waren in getrennte Stadtverwaltungen organisiert und
benötigten daher Rathäuser, Gerichtshöfe etc., und entlang breiter, gepflasterter Stra-
ßen entstanden zudem Kirchen, Schulen, Hotels, Banken, Geschäftshäuser sowie Villen
und Wohnhäuser, die den Neuankömmlingen ihren gewohnten – europäischen – Stan-
dard garantierten. DarĂĽber hinaus fanden vermehrt reiche Chinesen auch Gefallen an
feudalen Villen, und der Zuzug in die aufstrebende Stadt erforderte auch die Errichtung
von mehrstöckigen Miethäusern. Bemerkenswert ist, dass Hermine »nicht einen anstän-
digen Baum« sah. Denn sämtliche Straßen wurden mit Bäumen bepflanzt, die Gebäude
lagen zumeist in kleinen Grünanlagen, und vor dem englischen Botschaftsgebäude be-
fand sich der »Viktoria Park« mit Rasenflächen, Buschwerk und Bäumen.
Es ist anzunehmen, dass auch Rolf nicht viel ĂĽber Tientsin gewusst hatte, als er das
erste Mal in diese Stadt kam. Wie erwähnt, hat im Jahr 1912 O. Nemecek festgestellt, dass
die österreichisch-ungarische Konzession in der Heimat weitgehend unbekannt war, und
ob Rolf während seines Gefängnisaufenthaltes etwas über diese Stadt erfahren hat, ist
mehr als fraglich. So öde Hermine Tientsin erlebt hat – und in Bezug auf die landschaft-
liche Lage hatte sie recht –, so interessant wird jedenfalls diese Stadt für den Architek-
ten Rolf gewesen sein. Denn er muss sich wie auf einer Städtereise in vertraute europä-
ische Länder vorgekommen sein. In keiner der Konzessionen wurde nämlich versucht,
die Bauwerke in irgendeiner Weise einem »chinesischen Stil« anzupassen. So wie in Eu-
ropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich geworden war, bei der Errichtung
neuer Gebäude auf Stile der Vergangenheit zurückzugreifen, so wurde diese Epoche
des Historismus auch in Tientsin eingefĂĽhrt. Allgemein vorherrschend waren klassizisti-
sche bis neobarocke Formulierungen, in denen Säulen aller Art eine wichtige Rolle spiel-
ten. Allerdings wurde versucht, möglichst auch »nationale« Elemente einzubringen. Zum
Beispiel konnte Rolf in der ehemals deutschen und ähnlich in der österreichisch-unga-
rischen Konzession eine Zusammenstellung mittelalterlicher Stile oder Fachwerkbauten
begegnen, während in der französischen Konzession elegante Gebäude im Empirestil
zu sehen waren, in der italienischen typisch mediterrane, flach gedeckte Gebäude, und
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273