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China 192
Rolf nach seiner Flucht aus Wladiwostok nicht nach Bukarest zurückkehren wollte, um
wieder im gemeinsamen Architekturbüro zu arbeiten, dürfte es ihm eine Genugtu-
ung gewesen sein, in der Antwort auf Rolfs Brief zu behaupten, dass sich die geschäft-
liche Lage in Bukarest recht zufriedenstellend entwickelt habe und, wie Hermine wei-
ter schreibt, »dass die Bauaussichten für die nächsten 5 Jahre ganz gute sind«. In der
Zwischenkriegszeit war die wirtschaftliche Lage allerdings in ganz Europa äußerst an-
gespannt, und insbesondere die Bautätigkeit kam weitgehend zum Erliegen. Das heißt,
es ist kaum vorstellbar, dass die Aussichten in Bukarest tatsächlich so vielversprechend
waren, und vielleicht deswegen machte Ernst seinem Schwager auch kein konkretes An-
gebot, wieder in die Firma einzutreten. Hermine hingegen vermutete, dass ihr Bruder
letztlich doch glaubte, dass die Lage in Tientsin nicht so schlecht sei, da Rolf offensicht-
lich nicht ganz als Verlierer dastehen wollte und in seinem Brief betonte hatte, dass er
noch das Projekt der Universität in Mukden in Arbeit hätte. »Na – ich hüte mich was zu
sagen«, schreibt Hermine in dem oben erwähnten Brief, »aber ich weiß dass der Kampf
hier unendlich schwer sein wird, da Rolf keine Verbindungen mit Chinesen hat – Tient-
sin ist überhaupt kein Feld für einen Architekten wie Rolf – er kann sich hier unmöglich
weiter entwickeln – und außerdem kann er als Architekt keine besonderen Güter er-
werben. Was wirklich trägt sind ja die Bauausführungen.« Hermine betont zwar, dass es
ihr nun nicht mehr so wichtig ist, wieder nach Bukarest zurückzukehren, »ich bin darü-
ber hinweg. – Aber das Gefühl habe ich gemeiner wie die Chinesen sind die Rumänen
auch nicht«. In Bukarest jedoch »wäre Rolf Wien näher hätte andauernd die künstleri-
sche Anregung, und könnte dann bei geeigneter Zeit, den Sprung nach Wien machen –
denn dies ist doch das Endziel seines Wollens«.
Offensichtlich war also die Rückkehr in die Heimat für das junge Ehepaar ein im-
mer wieder diskutiertes Thema, das einerseits durch das anhaltende Heimweh Hermi-
nes und andererseits durch Rolfs berufliche Kalamitäten ständig neue Nahrung bekam.
Vorerst jedoch unternahm Rolf diesen Schritt nicht, sondern beschloss, als selbststän-
diger Architekt und Unternehmer in Tientsin einen Neubeginn zu wagen. Um sich eine
neue berufliche Existenz aufzubauen, war es jedoch notwendig, mit den finanziellen Res-
sourcen wieder äußerst sparsam umzugehen, das heißt, Büroräume anzumieten wäre
praktisch unmöglich gewesen. Zum Glück sind Rolf und Hermine bereits im September
1922 in ein geräumiges Haus umgezogen, und ein Zimmer konnte daher als Büro ein-
gerichtet werden.
Über die Hintergründe der Firmenauflösung liegen keinerlei Äußerungen Rolfs vor.
Wie sein Sohn Franz später erfuhr, scheinen grundsätzliche Meinungsunterschiede be-
züglich der Firmenführung eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Rolfs deutsche
Partner waren vor allem an einem möglichst schnellen Profit interessiert, während Rolf
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273