Seite - 200 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Bild der Seite - 200 -
Text der Seite - 200 -
China 200
nenden 20. Jahrhunderts dominierte, regten sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg
neue Bestrebungen, die eine endgültige Abkehr von den historischen Stilen forderten
und nach neuen Ausdrucksformen suchten. Es entstand die »Klassische Moderne«, die
allerdings keinen klar definierten Stil im eigentlichen Sinne hervorbrachte. Unterschied-
liche ästhetische Positionen führten zu teils konträren, oft regional begrenzten Ergebnis-
sen, wie etwa im Expressionismus oder im Konstruktivismus. In Deutschland entstanden
im »Bauhaus«, das im Jahr 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründet wurde, hinge-
gen Richtlinien, die unter den Bezeichnungen »Neues Bauen«, »Funktionalismus«, »Neue
Sachlichkeit« und »Internationaler Stil« teils weiterentwickelt wurden, teils nur in kleineren
Varianten das gestalterische Prinzip repräsentierten, das vorrangig die Bautätigkeit der
1920er- und 1930er-Jahre beherrschte. Generell umfasste der neue architektonische Ge-
staltungswille drei Grundforderungen: Klarheit, Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit in der
Konstruktion; Verwendung neuer Techniken und Materialien; Verzicht auf das Ornament.
In Wien etwa bietet die »Werkbundsiedlung« im 13. Bezirk geradezu ein Musterbei-
spiel für die architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten der 1930er-Jahre. Josef Frank,
der seinerzeit ein Studienkollege von Rolf war, initiierte und plante im Jahr 1930 die An-
lage einer Mustersiedlung, zu der er 30 Architekten und eine Architektin aus Österreich,
Frankreich, Deutschland, Holland und den USA einlud – was von vornherein eine ein-
heitliche Gestaltung ausschloss. Die Architekten, zu denen unter anderem Adolf Loos,
Joseph Hoffmann, Margarete Schütte-Lihotzky, Ernst Plischke, Oswald Haerdtl, Richard
Neutra, Gerrit Rietveld und André Lurcat zählten, entwarfen 70 Musterhäuser und zum
Teil auch die Inneneinrichtungen. Das Besondere ist, dass jedes Haus zwar unterschied-
lich gestaltet ist, aber die Siedlung insgesamt die oben erwähnten Prinzipien verkörpert.
In China hingegen ging die Entwicklung des architektonischen Gestaltungswillens
andere Wege. Ab dem frühen 20. Jahrhundert tauchten generell einzelne Versuche auf,
bei neuen Bauaufgaben traditionelle chinesische Elemente zu integrieren. Es wurde je-
doch zumeist nur moderne, nach westlichem Vorbild konzipierte Baukörper mit typisch
chinesischen Dächern versehen – eine Gestaltungsidee, die dann so neu auch wieder
nicht war. Im Jahr 1747 wurde nämlich von einigen Jesuiten, die als Missionare nach Chi-
na gekommen waren, ein Bereich des »Alten Sommerpalastes« in Peking gestaltet, der
allerdings heute nur mehr als Ruinen erhalten ist. Federführend war Giuseppe Castigli-
one: Er entwarf einen Garten, der sodann die Bezeichnung »Garten westlicher Art« er-
hielt, und errichtete mehrere Gebäude im italienischen Rokokostil, deren Dächer jedoch
in chinesischer Form gestaltet waren.
Die Bemühungen, aus chinesischen und europäischen Bauelementen einen neuen
Stil zu kreieren, blieben schließlich erfolglos, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil die
Ausdrucksformen der historischen Stile Europas auch von den chinesischen Bauherren
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273