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Das architektonische Werk 215
Zunächst beschloss Rolf jedoch, für sich und seine Familie die »Villa GeYlinG« in Pei-
taiho zu errichten, wofür er jedoch ausschließlich praktische Gründe anführte. (Abb. 96)
Da er in dem Badeort mehrere Aufträge erhalten hatte, konnte er, wie er im Dezember
1931 seiner Schwester schreibt, »die Zeit und die Reiseunkosten dieser Bauleitung vertei-
len«. Er eröffnete nämlich für diese Arbeiten vor Ort ein eigenes Baubüro, in dem er »fä-
hige Handwerker, Vorarbeiter etc.« beschäftigte und in das er »häufig selbst zur Beauf-
sichtigung« hinfuhr, wie er in einem Inserat in den »Deutsch-chinesischen Nachrichten«
vom 15. 3. 1932 angab. Praktisch denkend wie immer, versuchte er bei dieser Gelegenheit
weitere Aufträge zu akquirieren und bot in diesem Inserat an, »dortselbst allerlei Bau-
arbeiten, Reparaturen, Anstreicherarbeiten etc. zu übernehmen«. Gleichzeitig nützte er
seine kurzfristig geschaffene Infrastruktur – er dachte das Büro dort nur bis Juni zu be-
treiben –, aber auch für den eigenen Villenbau. Darüber hinaus wollte Rolf für sein Haus
auch das vom Schleusenbau übrig gebliebene Holz verwenden, da er bei einem Ver-
kauf des Holzes rund die Hälfte des ausgegebenen Geldes verloren hätte. Im oben er-
wähnten Brief schreibt er: »So habe ich nur wenig anderes Material und die Arbeit auf-
zuwenden, und habe wenigstens das Häuschen, das entweder Mädy bewohnen kann,
um Miete zu sparen, oder das vermietet werden kann. Es soll für zwei Familien, natür-
lich bescheiden, ausreichen. Ich rechne dabei, dass es wenn mal der Silberkurs sich wie-
der gebessert haben sollte auch nach Goldwert verkauft werden könnte, so wäre doch
nicht die ganze heutige Kursdifferenz am Silber verloren. Heute Silbergeld in Gold ein-
zuwechseln ist 50 % Verlust.«
Die landschaftlich äußerst schön gelegene Villa war zweigeschoßig, an der Rückseite
war ein eigener, aus Ziegeln errichteter Trakt für das Hauspersonal angebaut. Ohne an
Wünsche von Auftraggebern gebunden zu sein, gestaltete Rolf ein Haus, das gleichsam
paradigmatisch seine Art der Synthese von Tradition und Moderne verkörpert. Einerseits
erhielt es mit einer kühnen, frei auskragenden Terrassenplattform mit einem Durchmes-
ser von 9 m eine höchst moderne, die Möglichkeiten des Stahlbetons ausschöpfende
Formulierung. Auf der anderen Seite drückte Rolf seine tiefe Verbundenheit mit Öster-
reich mit rückerinnernden Attributen aus: Das Untergeschoß des Hauses ist aus grobem,
bossiertem Quadermauerwerk errichtet, die Säulen, die die Terrasse stützen, sind aus
dem gleichen Material und überdies zum Teil in mittelalterlicher Manier geböscht. Die
modern großen Fenster erhielten herkömmliche Fensterläden und die Türen Lünetten
mit geschwungenen Versprossungen. Ornamentierte Putzflächen lassen – trotz der Ver-
wendung des Eisenbetons – endgültig nicht den Verdacht aufkommen, es könnte sich
um eine Schöpfung der nüchternen klassischen Moderne handeln. Dazu passt, dass am
Dach eine österreichische Flagge aussagekräftig über die Herkunft der Besitzer infor-
mierte. Das Wohnzimmer erhielt eine traditionelle Balkendecke und dunkle Holzvertä-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273