Seite - 225 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Bild der Seite - 225 -
Text der Seite - 225 -
Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 225
Kontakte gepflegt wurden. Auch Rolf eröffnete dort einige Jahre später sein Architektur-
büro, während er seinen Wohnsitz in der ehemaligen deutschen Konzession beibehielt.
Die europäischen Zuwanderer bildeten mit ihren Landsleuten gesellschaftliche Zirkel,
in denen private, aber auch geschäftliche Kontakte gepflegt wurden, und diese Zusam-
menkünfte hatten fern von der Heimat selbstredend einen hohen identitätsstiftenden
Stellenwert. Insbesondere Neuankömmlinge wurden stets mit großem Interesse begut-
achtet. Es war ĂĽblich, den Einstand mit einer Cocktailparty zu feiern, die von den Zu-
wanderern zu organisieren war und die stets eine willkommene Abwechslung bedeu-
tete. Es ist anzunehmen, dass sich Rolf aufgrund seiner intensiven beruflichen Tätigkeit
und seiner einzelgängerischen Persönlichkeitsstruktur kaum die Zeit genommen hat bzw.
kaum daran interessiert war, in diesen Zirkeln ein häufiger Gast zu sein. Im Prinzip kam
es ihm daher sehr gelegen, dass Hermine zustimmte, die erwartete Cocktailparty vor-
erst einmal zu verschieben. Wenngleich fĂĽr Hermine der Hauptgrund in der Unansehn-
lichkeit der gemieteten Wohnung lag, die so gar nicht ihrem Lebensstil und Geschmack
entsprach, erkannte sie bald, dass die Deutschen bzw. Ă–sterreicher in Tientsin insge-
samt einer Gesellschaftsschicht entstammten, zu der sich weder sie noch Rolf zugehö-
rig fĂĽhlten, wie sie in ihrem ersten Brief an ihre Schwiegermutter am 20. 10. 1921 dras-
tisch schilderte: »gesellschaftliches Leben gibt es hier genug aber alle Unterhaltung von
der hohlsten Sorte. So z. B. rennen die Frauen atemlos von einem Tee zum anderen, der
Klatsch floriert – ein wirklich gediegenes Wort hörst Du in den Kreisen nicht. – Es wird
geschwätzt, [  …  ], geraucht, geflirtet, getanzt, und dies mit Ausdauer, geklatscht mit noch
viel grösserer Hingabe. Und die Leute sind entzückt wie gut sie sich unterhalten. Abend
rennt man ins Kino, oder ins Empire-Cafe. Da wird wieder getanzt zu einer ganz grässli-
chen amerikanischen Hackbrettmusik. [  …  ] Aber wir – schauen zu, und haben immer die
eine unsagbare Angst in uns – nicht mittun – sonst ist man unrettbar verloren, man ver-
sumpert.« Sie betont dann aber: »So allmählich schaffen wir uns einen Kreis mit gedie-
genem Geschmack und Interesse und die Heimat kann uns nicht verlieren.« Tatsächlich
konnten letztlich nur sehr wenige Menschen den hochgesteckten AnsprĂĽchen des Ehe-
paares entsprechen. Vor allem in dem Arzt Dr. BrĂĽll, der auch aus Wien stammte und
ein ehemaliger Kriegsgefangener war, fanden Rolf und Hermine in der Folge nicht nur
einen zuverlässigen Hausarzt, sondern auch einen lebenslangen geistreichen Freund.
Zum Freundeskreis zählten außer dem Arzt auch dessen Frau sowie der österreichische
Honorarkonsul Paul Bauer und dessen Tante Frau Detring. Später gehörten auch noch
einige Lehrer und Lehrerinnen der Deutschen Schule dazu.
Wenngleich das Ehepaar Geyling den Tientsiner Geselligkeiten nach Möglichkeit aus-
wich, konnte sich Hermine den ĂĽblichen Einladungen zum Tee doch nicht ganz entzie-
hen. Während die Männer zumeist beruflich sehr in Anspruch genommen waren, be-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273