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Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 229
Hermine aus der Wiener Oper zweifellos nicht gewohnt. Die Vorstellung dauerte drei
Stunden, und Hermine schließt den ausführlichen Bericht mit den Worten: »wir kamen
schließlich halb tot nach Hause«.
Solche Zusammentreffen mit Chinesen kamen jedoch vor allem aus geschäftlichen
Gründen zustande. Üblicherweise beschränkte sich die gesellschaftliche Kommunika-
tion auf die eigenen Landsleute bzw. die europäischen Bewohner Tientsins und fand
deshalb vorwiegend innerhalb der Konzessionen statt. So standen etwa die Schulen
für diverse Zusammenkünfte und Aktivitäten und insbesondere für Veranstaltungen zu
hohen Feiertagen wie Weihnachten zur Verfügung. Darüber hinaus spielte eine Reihe
von Klubs, wie etwa der »Club Concordia«, eine wichtige Rolle. Im »Hotel Astor« kamen
vorwiegend die Briten, Deutschen, Italiener und Österreicher zusammen, um Banket-
te zu veranstalten, hohe Feiertage zu begehen sowie auch Theatervorführungen und
Konzerte zu arrangieren – Veranstaltungen, die auch von Rolf und Hermine besucht
wurden. So berichtete Rolf einmal, dass ein Teil der Operette »Opernball« aufgeführt
wurde, die von Richard Heuberger, dem Cousin seiner Mutter und seinem Vormund,
komponiert worden war.
Eine wichtige Funktion im geselligen Leben hatten auch die diversen Sportklubs.
Nachdem sich Mitte der 1920er-Jahre letztlich doch die Beziehungen zwischen den ehe-
maligen Sieger- und Verlierermächten weitgehend normalisiert haben, standen die di-
versen Klubs im Großen und Ganzen allen Nationen offen. Rolf, der in seiner Jugend lei-
denschaftlich Sport betrieben hatte und bestrebt war, sich auch während der Zeit seiner
Gefangenschaft mit Fußball- und Tennisspiel fit zu halten, hat nach seiner Ankunft in
China zunächst aus Zeit- und Geldmangel auf jegliche sportliche Betätigung verzichtet.
Schließlich musste er jedoch mit Schreck feststellen, dass er begann, einen beträchtli-
chen Bauch anzusetzen, und dass auch seine gesundheitliche Konstitution nicht die bes-
te war. Er beschloss deshalb, so oft wie möglich vor Arbeitsbeginn Tennis zu spielen. Be-
friedigt berichtet Hermine Rolfs Mutter im März 1922: »Sein Fett schwindet zusehends
und auch ansonsten fühlt er sich gehobener und frischer.« Allerdings, so fügt sie hin-
zu, macht ihm das Tennisspielen am wenigsten Spaß, ist aber der einzige Sport, der so
kostengünstig ist, dass er das Geld dafür ausgeben kann bzw. will. Auch das Schwimm-
bad suchte er auf, das allerdings »für unsere Begriff recht kümmerlich [
ist ] – das Was-
ser nicht sehr schön«.
Diese Sportarten konnten im »Tientsin Country Club« ausgeübt werden, während
im »Tientsin Race Club«, der in der Britischen Konzession lag, im Sommer Fußball ge-
spielt und im Winter Schlittschuh gelaufen wurde. Die Eislaufbahn war mit Bambusmat-
ten überdeckt und soll auf diese Weise die größte »Indoor«-Eisfläche der Welt gewesen
sein. Dieses Angebot ließ Rolf das Eislaufen für sich neu entdecken, und er besuchte in
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273