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Ewige Ungewissheit 249
zu den Konzessionen, Wachposten der Truppen und Freiwilligenkorps, Kontrollen, Pas-
sierscheine, ein Strom von Flüchtlingen, das wird alles man kann fast schon sagen ge-
schäftsmäßig erledigt, wie es kommt«. Rolf schreibt weiter, dass er schon telegrafieren
wollte, um die Schwiegereltern zu beruhigen, dass aber alle Leitungen von den »blöd-
sinnigen« amerikanischen Reportern total blockiert waren. Angeblich hatten diese Re-
porter nämlich den Auftrag, jeden Tag über die Ereignisse je nach Finanzkraft des Blat-
tes 4. 000 bis 10. 000 Worte zu telegrafieren. Wodurch sie jedoch, wie Rolf meinte, auch
viel Unsinn schrieben, um dieses Soll zu erfüllen.
Natürlich stand die Bautätigkeit einige Zeit still, denn die chinesischen Arbeiter durf-
ten die Konzessionen vorübergehend nicht betreten, aber als Rolf den Brief verfasste,
wurde an den diversen Baustellen schon wieder gearbeitet. Bereit, aus jeder neuen Si-
tuation das Beste zu machen bzw. sich jeder neuen Situation mit Optimismus zu stellen,
schrieb er seiner Schwester am 5. August 1937, dass er durch diesen Krieg keinen Ein-
bruch in der Bautätigkeit fürchte, sondern erwartete, dass unter japanischer Herrschaft
»ein rascheres Tempo der Entwicklung und Industrialisierung einsetzen werde, aber es
ist auch gut möglich, dass die erobernde Nation das Geschäftsleben monopolisieren
und den anderen Fremdländern das Tätigkeitsfeld mehr und mehr abschnüren wird. Nun,
zum Glück geht in China nichts allzu rasch und hat man gelernt sich vielen Umständen
anzupassen. Jedenfalls fürchte ich nichts, nur muß ich natürlich vorsichtiger sein und ge-
fasst auch magerere Zeiten hinzunehmen, wenn es so kommen soll.«
Rolfs Gelassenheit war typisch für ihn, und unwillkürlich muss man an eine Stelle in
einem Brief denken, den seine Frau mehrere Jahre zuvor, am 16. März 1931 ihrer Schwie-
germutter geschrieben hatte, in dem sie klagt, dass Mausi äußerst unkonzentriert ihre
Schulaufgaben mache: »Manchmal glaube ich, dass sie etwas von Rolf hat, er kann ja
auch zuweilen von einer Ruhe sein, dass man aus der Haut fahren möchte. [ … ] Viel-
leicht ist aber gerade dies ein Glück wer weiss ob er so manches geschafft hätte wenn
er eben diese Ruhe nicht hätte.«
Rolfs Zuversicht bezüglich seiner beruflichen Aussichten bestätigte sich ja auch in-
sofern, als er im Herbst 1938 eine Reihe von neuen Aufträgen erhielt, sodass er wieder
jeden Tag bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten hatte. Im Dezember 1938 schreibt er,
dass er mit sechs Wohnhäusern bereits begonnen habe und dabei sei, für weitere sieben
Häuser den Abschluss zu machen. Außerdem bekam er den Auftrag für einen größeren
Hotelzubau sowie für einen Kleinwohnungsblock. »Vom Krieg um uns herum sind wir
derzeit gar nicht betroffen und man merkt in Tientsin kaum etwas von den Ereignissen.«
Nachdem Rolf den Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Krieges im Jahr 1937 sehr
unmittelbar miterlebt hatte, blieb Tientsin in der Folge von direkten Kriegsauswirkungen
verschont. Als im März 1938 der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland erfolgte,
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273