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änderten sich hingegen für Rolf und seine Frau auch in Tientsin die Lebensumstände
grundlegend. Allerdings scheint Rolf dieses Ereignis – vermutlich aus Mangel an ausrei-
chenden Informationen – nicht in seiner vollen Tragweite erfasst zu haben, denn er be-
hielt seinen erfrischenden Optimismus, wie sein Brief an Greta vom 18. 5. 1938 zeigt: »Ich
freue mich sehr, dass du so guten Mutes bist und hoffe, dass sich der Umschwung auch
fĂĽr Dich und fĂĽr Remi gĂĽnstig auswirken wird. Auch hier ist die Umstellung schon ganz
erfolgt. Das österreichische Konsulat wurde schon längst dem reichsdeutschen überge-
ben und [  Konsul  ] Bauer ist schon heimgereist. Ich glaube ich schrieb Dir schon darüber,
dass Bauer nicht mehr zurückkehrt und dass ich daher am 1. Mai das Konsulat ganz hät-
te übernehmen sollen. Ich hatte schon Amtsraum, Möbeln etc. hergerichtet, weil das mit
Empfängen verbunden ist. Nun kam es anders, und nachdem ich die Sache ehrenhal-
ber 15 Jahre gemacht habe so bin ich ehrlich froh, dass mir die Arbeit und der Zeitver-
lust erspart bleibt. Mädy und ich, wir können uns noch nicht so ganz hineinfinden. Wir
leben hier so ganz in einer reichsdeutschen Gemeinde und da wird man sich der Unter-
schiede natürlich stärker bewusst. Auch der neue Gruss und das Um und Auf sind uns
recht fremd, aber mit der Zeit wird man sich auch darein finden.« So wie alle Österrei-
cher benötigte auch Rolf einen Ariernachweis, und er bat seine Schwester, die entspre-
chenden Dokumente zu besorgen, und schlug in diesem Zusammenhang vor, »gleich
weitere Nachforschungen nach unseren seltenen Vorfahren zu betreiben. [  …  ] Die Kinder
werden in der Schule jetzt schon viel nach solchen Aufzeichnungen gefragt und quä-
len uns mit ihrem Drängen.«
Greta besorgte für ihren Bruder nicht nur die benötigten Dokumente, sondern küm-
merte sich auch um die vorgeschriebene Neuausstellung von Rolfs Diplom der Tech-
nischen Hochschule. Gleichzeitig mit diesen Papieren sendete sie ihm aber auch die
Formulare zur Anmeldung zum »N. S. Bund Deutscher Techniker«, einem der NSDAP an-
geschlossenen Verband. Tatsächlich meldete Rolf sich kurze Zeit später bei der »Fach-
gruppe Bauwesen« an, doch ist schwer vorstellbar, dass er diesen Schritt aus ideologi-
schen Gründen tat – Rolf scheint vielmehr ein durch und durch unpolitischer Mensch
gewesen zu sein. Stattdessen dürfte – wie in vielen anderen Lebenssituationen auch –
der charakteristische Pragmatismus Rolfs seine Entscheidung getragen haben. So wie
er selbstverständlich Mitglied des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins
war, so war er nun ebenso selbstverständlich Mitglied im »Bund Deutscher Techniker« –
zumal es damals durchwegs üblich war, als Architekt bzw. Ingenieur sämtlichen bedeu-
tenderen Fachvereinen anzugehören.
Als sein gleichnamiger Neffe Rolf, der Sohn seines Bruders Remigius, im Jahr 1937
sein Technikstudium abgeschlossen hatte, stellte er in einem Brief an seine Schwester am
1. Dezember wiederum betont rationale Überlegungen an: »Nach meiner Meinung soll-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273