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Epilog 266
Diamanten unbemerkt aus dem Land zu schmuggeln. Hermine war bewusst, dass das
Gepäck der Ausreisenden sehr genau durchsucht wurde. Wie und wo also sollte sie die
kostbaren Steine verstecken
? Da fiel ihr die Bonbonniere mit Cognac-Kirschen ein, die
sie von den Besitzern des »Cafe Kissling & Bader«, einer renommierten Konditorei und
Bäckerei in Tientsin, als Abschiedsgeschenk erhalten hatte. Mit Geschick verbarg Her-
mine die einzelnen Diamanten in den Bonbons und stellte sich wenige Tage später der
Passkontrolle. Tatsächlich überstand ihre »Bastelei« die Musterung, doch durchschaute
offenbar der nachfolgende Passagier, der die Szene beobachtet hatte, den »Schmug-
gel« aufgrund von Hermines Nervosität und raunte ihr zu, das nächste Mal weniger
auffällige Bonbons als Versteck zu wählen.
Hermine verließ das Land per Schiff auf demselben Weg, den sie seinerzeit als jun-
ge Frau bei der Einreise in das unbekannte Land China genommen hatte. Österreich
hatte sich in einer Art verändert, dass ihre Fahrt weitaus eher einer Reise in eine neue
Fremde geähnelt haben muss als einer Rückkehr in die Heimat ihres Mannes. Rumäni-
en und ihre Geburtsstadt Bukarest lagen inmitten des Kalten Krieges überhaupt nahezu
unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang, der Europa teilte, und nicht nur viele Fami-
lienmitglieder, sondern auch viele der früheren Freunde und Bekannten waren tot oder
längst in ganz andere Regionen verzogen, um dem Grauen der Nazi-Herrschaft und
der Kriegswirren zu entfliehen.
Das Haus in Emmersdorf war nach dem Tod von Greta im Jahr 1949 von einem be-
freundeten Ehepaar betreut worden, und Hermine hätte nun in die Villa einziehen kön-
nen. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war jedoch von den vier Siegermächten USA,
Großbritannien, Frankreich und UdSSR in Österreich eine alliierte Kommission einge-
richtet und das Land in vier Besatzungszonen geteilt worden. Die Emmersdorfer Villa
lag nun in der russischen Zone, und Hermine wollte nicht neuerlich unter kommunisti-
scher Besatzung leben. Sie verbrachte daher die Sommermonate in Igls in Tirol, wo sie
in dem Hotel von Rolfs Cousin Otto Liermberger wohnte. In den Wintermonaten leb-
te sie in Freiburg in der Nähe ihrer Tochter Maria Barbara ( Mausi ) und ihres Schwieger-
sohnes. Als im Jahr 1955 der Österreichische Staatsvertrag unterzeichnet wurde, zogen
die russischen Besatzer ab, und Hermine übersiedelte nach Emmersdorf. Die Tochter, die
kinderlos geblieben war, hielt sich jedes Jahr mehrere Monate bei ihrer Mutter auf, und
nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1994 übersiedelte Maria Barbara ganz in diesen Ort,
wo sie im Jahr 2004 im Alter von 80 Jahren starb.
In Anbetracht der ständig wiederkehrenden Leiden, die Hermine in China zu schaf-
fen gemacht hatten, bewies sie einmal mehr, dass sie letztendlich mit der gleichen Ro-
bustheit ausgestattet war, die Rolfs Mutter bei ihrem Sohn gleich nach dessen Geburt
festgestellt hatte. Denn sie starb erst im Jahr 1980 im hohen Alter von 93 Jahren.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Untertitel
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Autor
- Inge Scheidl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 292
- Schlagwörter
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273