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62 | Gestaltungsfragen, Stilformen und Ornamente
ordnete Rolle. Anders als das etwa am Niederrhein oder in den Niederlanden der Fall
war, schrägten die Tischler in den hier untersuchten Kunstlandschaften erst um 1700
die vertikalen vorderen Außenkanten der Möbel ab, seit den späten 1710er-Jahren
konnten sie die Ecken auch abrunden und nach innen verkröpfen (Abb.
159, 308, 371 ;
Farbtaf. 11).118 Da die solcherart gestalteten Kanten optisch von den Fronten zu den
Stirnseiten der Möbel überleiten, steht zu vermuten, dass man im frühen 18. Jahrhun-
dert auch im Osten Österreichs von der strengen Frontalsicht abkam und gleicherma-
ßen mit der Sicht von der Seite her rechnete. Tatsächlich glichen sich die Schmalseiten
jetzt in ihrer Strukturierung und ihrem Aussehen den Möbelvorderseiten an.
Eine weitere Innovation lassen die architektonischen Gliederungssysteme an Kas-
tenmöbeln, Chorgestühlen und Kirchenbänken erkennen : Waren Säulen und Pilaster
im späten 17. Jahrhundert den Angaben in architektonischen Lehrbüchern entspre-
chend gestaltet und mit vollständigen Gebälken versehen119, so verschmolzen im frü-
hen 18. Jahrhundert ihre Kapitelle mit dem die Möbel abschließenden Kranzgesims
und ihre Basen mit dem Sockel (Abb. 303). Als Folge davon handelt es sich bei den
Stützen nicht mehr um Säulen oder Pilaster im Sinne der klassischen Architekturthe-
orie. Galten sie zuvor, zumindest scheinbar, als konstruktiv unentbehrliche Elemente,
deren Funktion im Tragen der hölzernen Struktur lag, wertete man sie nun zu rein
ornamentalen Zierelementen ab und ließ sie zu einem für die Stabilität der Konstruk-
tion unbedeutenden Bestandteil der Dekoration werden. Seit den 1730er-Jahren
konnte dann wie an den Möbeln der Unteren Sakristei in der Wiener Stephanskirche
(Abb.
81–83) die architektonische Gliederung fast zur Gänze aufgegeben werden. Die
Entwerfer von Möbeln hatten sich von der strikten Subordination unter die klassische
Architekturlehre emanzipiert.
Bemerkenswert ist ferner der weitgehende Verzicht auf Schrankfüße. Kommen sie
an den hier untersuchten Kastenmöbeln aus dem 17. Jahrhundert nur ausnahmsweise
vor120, so werden Möbel aus dem sakralen Umfeld im 18. Jahrhundert zunächst ver-
einzelt, seit der Jahrhundertmitte dann immer häufiger mit Füßen versehen. Beispiele
dafür bieten Schränke in der Sakristei des Stiftes Dürnstein von 1722/23 (Abb. 108,
109), die Sakristeimöbel im Stift Geras aus den späten 1730er-Jahren (Abb.
125–127),
118 Abgeschrägte Außenkanten lassen sich bereits im fortgeschrittenen 17. Jahrhundert an Möbeln aus
dem Norden nachweisen. Catalogus van Meubelen (1952), Abb. 46, mit einem niederländischen
Schrank aus der Jahrhundertmitte sowie Kreisel/Himmelheber, Deutsche Möbel, Bd. 1 (1981),
Abb. 494, mit einem Kölner Überbauschrank aus der ersten Jahrhunderthälfte.
119 Oft verfassten Tischler solche Lehrbücher für ihre Berufskollegen. Peesch, Säulenbücher (1977) ; Irm-
scher, Säulenbücher (1999).
120 Einige Möbel aus der Lambacher Schatz- und Paramentenkammer besitzen Füße (Abb. 314, 316,
317), doch ist fraglich, ob sie nicht auf einen nachträglichen Umbau der Stücke zurückgehen.
Sakralmöbel aus Österreich
Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus, Band I: Östliche Landsteile
- Titel
- Sakralmöbel aus Österreich
- Untertitel
- Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus
- Band
- I: Östliche Landsteile
- Autor
- Michael Bohr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20512-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 730
- Schlagwörter
- Baroque, applied arts, church furnishings, Barock, Kunsthandwerk, Sakralmöbel
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Teil 1 Vorbemerkungen
- Teil 2 Grundlegendes
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Zur Barockisierung von Weltkirchen und Klöstern 31
- Tischlerwerkstätten in Wien 33
- Tischlerwerkstätten auf dem Land 36
- Zur Größe der Werkstätten 40
- Zur Zusammenarbeit von Tischlern mit andern Handwerkern 41
- Zur Beschaffung des benötigten Holzes 43
- Zur Qualität des Holzes und zum System der Vergütung von Tischlern 43
- Nachlassende Qualität der Tischlererzeugnisse im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert 46
- Zu den verwendeten Materialien 48
- Zur Oberflächenveredelung und Restaurierung 51
- Exkurs : Technische Innovationen als Grundlage der Entwicklung neuer Gestaltungsformen 55
- II. Gestaltungsfragen, Stilformen und Ornamente 58
- III. Die Entwicklung des Kirchenmobiliars 81
- IV. Sakristeien 101
- Ihre Lage innerhalb des Raumgefüges 101
- Der Klosterplan von St. Gallen und frühe Sakristeimöbel 102
- Zur Funktion von Sakristeien, barocke Sakristeieinrichtungen und die Schriften von Carlo Borromeo und Jacob Müller 104
- Altäre und Scheinaltäre 104
- Lavabos 106
- Sakristeischränke und Ankleidekredenzen 107
- Zur Entwicklungsgeschichte der Sakristeischränke 110
- Ankleidetische und Tischkästen 111
- Truhen und Truhenbänke 113
- Beichtstühle 115
- Betpulte, Kniebänke und Bankpulte 116
- V. Mobiliar in Nebenräumen von Kirchen und Klöstern 118
- VI.Zur Hierarchie von Räumen und Möbeln 127
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Teil 3 Katalog – Beiträge zu den Sakralanlagen – Tafeln
- Hinweise 133
- Hinweise zu Provenienzen, Datierungen und Materialien 133
- Hinweise zu den angegebenen Maßen 133
- Hinweise zu den zitierten Schriftquellen 134
- I. Sakralbauten in Wien 135
- II. Sakralbauten in Niederösterreich 247
- Altenburg, Benediktinerstift 247
- Ardagger, Pfarrkirche hl. Margarete 260
- Dürnstein, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt 264
- Geras, Prämonstratenser-Chorherrenstift 283
- Göttweig, Benediktinerstift 294
- Heiligenkreuz, Zisterzienserstift 315
- Herzogenburg, Augustiner-Chorherrenstift 335
- Horn, Piaristenkirche 347
- Klosterneuburg, Augustiner-Chorherrenstift 352
- Krems, Piaristenkirche 367
- Krems, Pfarrkirche St. Veit 380
- Lilienfeld, Zisterzienserstift 386
- Melk, Benediktinerstift 408
- St. Marein, Pfarrkirche hl. Maria 434
- St. Pölten, Dom- und Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 436
- Seitenstetten, Benediktinerstift 452
- Wiener Neustadt, Zisterzienserstift Neukloster 466
- Zwettl, Zisterzienserstift 477
- III. Sakralbauten in Oberösterreich 500
- Baumgartenberg, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 500
- Kremsmünster, Benediktinerstift 512
- Lambach, Benediktinerstift 534
- Linz, Jesuitenkirche (Alter Dom) 551
- Linz, Karmelitenkloster 566
- Linz, Seminarkirche Hl. Kreuz 572
- St. Florian, Augustiner-Chorherrenstift 580
- Schlägl, Prämonstratenser-Chorherrenstift 607
- Schlierbach, Zisterzienserstift 621
- Waldhausen, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 631
- Wilhering, Zisterzienserstift 638
- Teil 4 Zusammenfassung und Ausblick – Glossar – Verzeichnisse –
- Literatur
- Zusammenfassung und Ausblick 659
- Zum Aufbau des Buchs 659
- Historischer Abriss 660
- Entwicklungsgeschichte der Kirchenmöbel 661
- Zur Einrichtung verschiedener Räume in Kirchen und Klöstern 662
- Zur Hierarchie sakraler Einrichtungen 663
- Die Auftraggeber und ihr Einfluss auf die Kunstentwicklung 663
- Zum Verhältnis zwischen Auftraggebern, Architekten und Handwerkern 665
- Zu den Tischlern 665
- Stilistische Entwicklung der Möbel 666
- Regionale Besonderheiten 667
- Fazit und Ausblick 668
- Glossar 670
- Ortsindex 678
- Künstlerverzeichnis 682
- Abkürzungsverzeichnis 688
- Abbildungsnachweis 692
- Literaturverzeichnis 693