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298 | Sakralbauten in Niederösterreich
Doch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die hier vorkommenden Dreiergruppen
mit Giebeln der Architektursprache des frühen 18.
Jahrhunderts entlehnt sind. Johann
Lucas von Hildebrandt bediente sich öfter dieser Ausdrucksweise, 1728 bildete Salo-
mon Kleiner in einer Stichfolge ähnliche Giebelformationen ab.264 Mögliche Vorlagen
für die Göttweiger Stallen sind damit gefunden.
Das Dehio-Handbuch gibt das frühe 19. Jahrhundert als Entstehungszeit des
Chorgestühls an. Ein Grund für die korrekturbedürftige Spätdatierung könnte darin
zu suchen sein, dass man bei einer umfassenden Restaurierung des Gestühls die alte
Patina komplett entfernt und deshalb das Gesamterscheinungsbild massiv beeinträch-
tigt hatte.265 Der helle Farbton des Holzes und die homogene, von charakteristischen
Alterungsspuren weitgehend befreite Oberfläche lassen das Gestühl jünger erscheinen,
als es ist. Ein Vergleich der Stallen mit den in den 1730er-Jahren von Holdermann
gefertigten Refektoriumstischen und Archivschränken gibt jedoch ähnliche, teilweise
sogar übereinstimmende Detailformen zu erkennen.266 Zeitlich und stilistisch gehö-
ren diese Möbel zusammen.
Letzte Zweifel an der frühen Datierung räumt ein Eintrag im Arbeitsbuch von
Franz Anton Staudinger aus, der 1739 den Auftrag erhielt, das Gestühl zu reparieren,
nachdem sich die Stützbretter in der Brüstung verzogen hatten.267 Vieles spricht also
für die Datierung des Gestühls in die späten 1720er-Jahre. Da sein Aussehen deut-
lich die Handschrift Hildebrandts trägt, müssen die Entwürfe aus dem direkten Um-
feld des Architekten stammen, falls er sie nicht sogar selbst zeichnete. Ein Vergleich
mit dem 1722 entstandenen Chorgestühl in der Domkirche zu St. Pölten oder dem
wenige Jahre später gefertigten in Dürnstein lässt jedenfalls Unterschiede in der äs-
thetischen Auffassung überdeutlich zutage treten (Farbtaf. 07, 17) : Die zeittypischen
Ausprägungen eines verspielten Spätbarock in St.
Pölten und Dürnstein kontrastieren
mit der Variante eines strengen Barockklassizismus in Göttweig. Charakteristisch für
die Göttweiger Möbel jener Zeit sind sparsam verwendete plastische Formen und eine
weitgehende Reduktion des verwendeten Zierrats.
264 Vgl. zu Ornamentformen am Gestühl die Stuckarbeiten in der Kapitellzone der Pfarrkirche zu Potten-
dorf (1714/17) und die Attikabalustrade der Österreichischen Hofkanzlei in Wien (1717/19). Grim-
schitz, Hildebrandt (1959), 86, 88–90, Abb.
81, 82, 87–89. An der Brüstung des um 1725 entstandenen
Chorgestühls der Augustinerchorherren in Dürnstein liegt mit je einem Dreiecksgiebel zwischen zwei
Segmentgiebeln ein ähnliches Motiv vor (Farbtaf. 07).
265 Etliche Möbel des Stiftes erlitten vor und während des letzten Weltkrieges schwere Schäden, was zu
ihrer aufwendigen Restaurierung zwang. Engelbrecht, Göttweig (1983), 416–429 ; Lashofer, Vergan-
genheit (1983), 430–441.
266 Zu den Möbeln im Refektorium vgl. unten ; zu jenen im Archiv Bohr, Göttweig (2009), 512–513.
267 StAGö, K-G/L. 8, BR 1739, Nr. 52.
Sakralmöbel aus Österreich
Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus, Band I: Östliche Landsteile
- Titel
- Sakralmöbel aus Österreich
- Untertitel
- Von Tischlern und ihren Arbeiten im Zeitalter des Absolutismus
- Band
- I: Östliche Landsteile
- Autor
- Michael Bohr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20512-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 730
- Schlagwörter
- Baroque, applied arts, church furnishings, Barock, Kunsthandwerk, Sakralmöbel
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Teil 1 Vorbemerkungen
- Teil 2 Grundlegendes
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Zur Barockisierung von Weltkirchen und Klöstern 31
- Tischlerwerkstätten in Wien 33
- Tischlerwerkstätten auf dem Land 36
- Zur Größe der Werkstätten 40
- Zur Zusammenarbeit von Tischlern mit andern Handwerkern 41
- Zur Beschaffung des benötigten Holzes 43
- Zur Qualität des Holzes und zum System der Vergütung von Tischlern 43
- Nachlassende Qualität der Tischlererzeugnisse im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert 46
- Zu den verwendeten Materialien 48
- Zur Oberflächenveredelung und Restaurierung 51
- Exkurs : Technische Innovationen als Grundlage der Entwicklung neuer Gestaltungsformen 55
- II. Gestaltungsfragen, Stilformen und Ornamente 58
- III. Die Entwicklung des Kirchenmobiliars 81
- IV. Sakristeien 101
- Ihre Lage innerhalb des Raumgefüges 101
- Der Klosterplan von St. Gallen und frühe Sakristeimöbel 102
- Zur Funktion von Sakristeien, barocke Sakristeieinrichtungen und die Schriften von Carlo Borromeo und Jacob Müller 104
- Altäre und Scheinaltäre 104
- Lavabos 106
- Sakristeischränke und Ankleidekredenzen 107
- Zur Entwicklungsgeschichte der Sakristeischränke 110
- Ankleidetische und Tischkästen 111
- Truhen und Truhenbänke 113
- Beichtstühle 115
- Betpulte, Kniebänke und Bankpulte 116
- V. Mobiliar in Nebenräumen von Kirchen und Klöstern 118
- VI.Zur Hierarchie von Räumen und Möbeln 127
- I. Klerus, Kirchen und Klöster – Tischlereien und Tischlerarbeiten 31
- Teil 3 Katalog – Beiträge zu den Sakralanlagen – Tafeln
- Hinweise 133
- Hinweise zu Provenienzen, Datierungen und Materialien 133
- Hinweise zu den angegebenen Maßen 133
- Hinweise zu den zitierten Schriftquellen 134
- I. Sakralbauten in Wien 135
- II. Sakralbauten in Niederösterreich 247
- Altenburg, Benediktinerstift 247
- Ardagger, Pfarrkirche hl. Margarete 260
- Dürnstein, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt 264
- Geras, Prämonstratenser-Chorherrenstift 283
- Göttweig, Benediktinerstift 294
- Heiligenkreuz, Zisterzienserstift 315
- Herzogenburg, Augustiner-Chorherrenstift 335
- Horn, Piaristenkirche 347
- Klosterneuburg, Augustiner-Chorherrenstift 352
- Krems, Piaristenkirche 367
- Krems, Pfarrkirche St. Veit 380
- Lilienfeld, Zisterzienserstift 386
- Melk, Benediktinerstift 408
- St. Marein, Pfarrkirche hl. Maria 434
- St. Pölten, Dom- und Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 436
- Seitenstetten, Benediktinerstift 452
- Wiener Neustadt, Zisterzienserstift Neukloster 466
- Zwettl, Zisterzienserstift 477
- III. Sakralbauten in Oberösterreich 500
- Baumgartenberg, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 500
- Kremsmünster, Benediktinerstift 512
- Lambach, Benediktinerstift 534
- Linz, Jesuitenkirche (Alter Dom) 551
- Linz, Karmelitenkloster 566
- Linz, Seminarkirche Hl. Kreuz 572
- St. Florian, Augustiner-Chorherrenstift 580
- Schlägl, Prämonstratenser-Chorherrenstift 607
- Schlierbach, Zisterzienserstift 621
- Waldhausen, Pfarrkirche Mariae Himmelfahrt 631
- Wilhering, Zisterzienserstift 638
- Teil 4 Zusammenfassung und Ausblick – Glossar – Verzeichnisse –
- Literatur
- Zusammenfassung und Ausblick 659
- Zum Aufbau des Buchs 659
- Historischer Abriss 660
- Entwicklungsgeschichte der Kirchenmöbel 661
- Zur Einrichtung verschiedener Räume in Kirchen und Klöstern 662
- Zur Hierarchie sakraler Einrichtungen 663
- Die Auftraggeber und ihr Einfluss auf die Kunstentwicklung 663
- Zum Verhältnis zwischen Auftraggebern, Architekten und Handwerkern 665
- Zu den Tischlern 665
- Stilistische Entwicklung der Möbel 666
- Regionale Besonderheiten 667
- Fazit und Ausblick 668
- Glossar 670
- Ortsindex 678
- Künstlerverzeichnis 682
- Abkürzungsverzeichnis 688
- Abbildungsnachweis 692
- Literaturverzeichnis 693