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45Revolutionsabwehr,
Sprachnationalismus und dynastische Loyalität
Hormayrs Abrechnung mit dem josephinischen Zentralstaat stützte
sich auf Montesquieu. Für Montesquieu bewies sich das Genie eines
Staatsmanns an der Spitze eines vielgestaltigen Reichs gerade in der
Unterscheidungskunst: Er verstehe es, abzuwägen, wisse, wo es der
Einförmigkeit bedürfe und wo die Vielfalt von Vorrechten und loka-
len Einrichtungen zu respektieren sei.68
[…] Ungarn, Polen, Böhmen, Deutsche, Lombarden über einen
Kamm scheren zu wollen, diesen salto mortale von Josephs Corpo-
ralsliberalismus dürfte in unseren Tagen Niemand zu wiederholen
denken.69
Hormayrs Geschichtsbild war bei aller Herrscherhagiografie in zwei-
erlei Hinsicht spezifisch bürgerlich: Es thematisierte den Aufstieg des
Bürgertums zur geschichtsmächtigen Kraft und richtete sich an einen
bürgerlichen Adressatenkreis, für den es eine gehobene Konfektion
von Alben, Taschenbüchern und Regionalgeschichten bot, wie etwa
Hormayrs mehrbändiges Wien, seine Geschicke und seine Denk-
würdigkeiten.70 Die bürgerliche Entwicklung in den habsburgischen
Ländern grenzte Hormayr vom französischen Entwicklungspfad ab,
um die innere Vielfalt der Monarchie zu betonen, aber auch um im
Zeitalter der Restauration geschickt publizistische Nischen zu nützen.
TG (1827) 7, 42-88; dazu Kaspar Sternbergs Brief, TG (1827) 10, 124-125.
Vgl. allgemein Richard Pražák, Palacký a Maďaři před rokem 1848 [Palacký
und die Ungarn vor 1848], in: ČMM 71 (1958), 74-99 u. Richard Pražák,
Eszter Deák, Lujza Erdélyi (Hg.), Széchényi Ferenc és Csehország [Franz
Széchényi und Böhmen], Budapest 2003.
68 Vgl. Charles-Louis de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu, Esprit
des loix, Ou Rapport qu’elles doivent avoir avec la Constitution de chaque
Gouvernement, les Mœurs, le Climat, la Religion & le Commerce, 2. Aufl.,
Amsterdam 1753, III, livre 29, chapitre XVI, 244: »et la grandeur du génie ne
consisteroit-elle pas mieux à sçavoir dans quel cas il faut l’uniformité, & dans
quel cas il faut des différences? A la Chine, les Chinois sont gouvernés par le
cérémonial Chinois, & les Tartares, par le cérémonial Tartare: c’est pourtant
le peuple du monde qui a le plus la tranquillité pour objet. Lorsque les cito-
yens suivent les lois, qu’importe qu’ils suivent la même?« Zit. in: Joseph von
Hormayr, Wien, seine Geschicke und seine Denkwürdigkeiten, im Vereine
mit mehreren Gelehrten und Kunstfreunden, Band V/1 mit gegenüber dem
Reihentitel veränderten Vorsatz: Wien, seine Geschichte und seine Denk-
würdigkeiten, Erstes Heft, Wien 1823, 80, Anm.*.
69 Joseph von Hormayr, Anemonen aus dem Tagebuch eines alten Pilgersman-
nes, 4 Bde., Jena 1845, I, 59.
70 Hormayr, Wien, seine Geschicke und seine Denkwürdigkeiten.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513