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46 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
Hormayrs Bewertung des josephinischen Zentralismus als revolu-
tionärer Umbruch, als habsburgisches Äquivalent der Französischen
Revolution, erfüllte hier in zweierlei Hinsicht eine Schlüsselfunktion:
Diese Einschätzung ermöglichte zum einen eine subkutane Kritik des
josephinischen Absolutismus, den die Regierung Franz I. fortsetzte.
Zugleich wiegte Hormayr die Würdenträger und Zensoren der Res-
tauration aber in Sicherheit, indem er den Gegensatz zwischen der
für die Monarchie segensreichen Entwicklung und der Geschichte des
revolutionären Frankreich betonte.
Die Josephiner kannten, so Hormayr, »nur ein von gestern da-
tirendes, geschichtlich entwurzeltes, nach ausgelösten Körperschaf-
ten aufgelockertes«, in »Individuen zerhacktes ›Österreich aus dem
Stegreife‹«.71 Dass die Josephiner für die vaterländische Geschichte
nur Verachtung übrig hatten, bezeugte ihr Umgang mit Denkmä-
lern und Urkunden, Stiftungsbriefe und liturgische Bücher wurden,
wie Hormayr 1824 in seiner Geschichte Wiens schrieb, »an die
Papiermühle und an den Käsekrämer«72 abgegeben, die »Nachäf-
ferey der preußischen Formen«, die »bey Jena in wenigen Stunden
zusammensanken«73 erreichte damals ihren Höhepunkt, die Ge-
schichtsschreibung der josephinischen Zeit mischte das »nahrhafte
Mehl der alten Erzähler« zu »Aufklärungsgips«.74 Der »Haß gegen
alle Vergangenheit«75 habe Unglauben und Widersetzlichkeit hervor-
gebracht. Daraus entwickelte Hormayrs Kreis seine Selbstrechtfer-
tigung gegenüber der Restauration, so versuchte er die Bedeutung
der Geschichte als legitimierende Wissenschaft für die Monarchie
begründen.
Das führte freilich wieder zu heiklen Balanceakten, sobald es um
die Bewertung der josephinischen Reformen ging. Waren Josephs Re-
formen gescheitert, weil sie für die vielfältige Monarchie ungeeignet
71 Ebda., Band V/1, 81.
72 Ebd., 83.
73 Ebd., 84.
74 Ebd., 87.
75 Ebd., 84. In seiner Allgemeinen Geschichte beurteilt Hormayr Josephs Epo-
che, indem er sie an die berühmte Monstranz-Szene aus der Frühzeit der
Dynastie zurückbindet: Rudolf von Habsburg leiht einem Priester sein
Pferd, damit dieser mit dem Allerheiligsten über den reißenden Fluss gelangt.
Josephs Regierungszeit sei eine der »herrlichsten Fulgurationen jenes ewi-
gen Lichts, das aus Rudolphs Begegnung mit dem Priester auf der Jagd eine
ganze Weltgeschichte entzündet«, zit. n. Werner Telesko, Geschichtsraum
Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des
19. Jahrhunderts, Wien 2006, 106.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513