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52 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
digen suchen, wo sie im Kampfe gegen den allgewaltigen Staat nicht
vereinzelt stehen.82
So führte das Auftrennen der plurikulturellen Textur der habsbur-
gischen Länder allmählich zu einer schleichenden Zurichtung der
Bürger nach Nationen, wobei die Verfechter aller Bewegungen natio-
naler »Wiedergeburt« darum wetteiferten, halbherzige Angehörige der
Nation, Sprachwechsler und Opportunisten von ihrer Zugehörigkeit
zu überzeugen.83 Diese Beobachtung darf aber nicht dazu verleiten,
die Sogwirkung der Sprachnation zu überschätzen oder den vormärz-
lichen liberalen Nationalismus als aggressiv und säbelrasselnd-chau-
vinistisch zu deuten, dadurch geriete nämlich eines seiner zentralen
Merkmale, das Ideal der weltbürgerlichen Völkerfreundschaft, aus
dem Blick.84 Gerade den liberalen Kosmopolitismus hat die nationalis-
muszentrierte Forschung bislang zu wenig berücksichtigt.85
82 Joseph von Eötvös, Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19.
Jahrhunderts
auf den Staat, 2 Bde., Leipzig 1854, II, 52. So auch Viktor Andrian-Werburg:
»Aber in Ermangelung eines allgemeinen Bindungsmittels, welches den
ganzen Staat durchdränge, und an welches diese neuentstandenen Natio-
nalgefühle anschließen könnten […] hat das nationale traditionelle Prinzip,
das Band der Sprache, der Abstammung den Sieg davon getragen, und die
neuerwachten Kräfte um sich geschart«, [Andrian-Werburg,] Österreich und
dessen Zukunft, 2. Aufl., Hamburg 1843, 18. Vgl. auch die ähnliche Rück-
schau eines anderen originellen Theoretikers des habsburgischen Staats- und
Nationalitätenpro blems, Adolf Fischhofs. Fischhof verbindet die Beobach-
tung mit einer Pointe über die Pluralisierung der »Völker« in der betref-
fenden Epoche: »Erblickte damals«, im späten 18. Jahrhundert also, »das
Volk im zentralisirten Staate seinen Wohlthäter und Befreier, so sieht jetzt
die Mehrzahl der Völker in ihm ihren Unterdrücker und Gegner.« Adolf
Fischhof, Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes, Wien 1869, 106.
83 Vgl. Ewald Hiebl, Die nationale Zurichtung des Bürgers. Aspekte zu Na-
tion und Ethnizität in der Revolution von 1848, in: Gabriella Hauch, Maria
Mesner (Hg.), Vom »Reich der Freiheit«. Liberalismus – Republik – De-
mokratie, 1848-1998, Wien 1999, 85-114 und František Palackýs Prognose:
»Alle die Länder und Personen, besonders in Österreich, die heute noch in
nationaler Beziehung indifferent oder apathisch sind, werden es nach zehn
oder nach zwanzig oder nach dreißig Jahren nicht mehr sein, und so erlangen
Motive im Staatsleben, die sich auf Nationalitätsverhältnisse gründen und
Vielen jetzt noch unbedeutend zu sein scheinen, eine immer durchgreifendere
Wichtigkeit.«, Palacký, Österreichs Staatsidee, Prag 1866, 89.
84 Franco Venturi, La circolazione delle idee, in: Ra 41 (1954), 203-222, 216.
85 Vgl. aber Maurizio Isabella, Risorgimento in Exile. Italian Émigrés and the
Liberal International in the Post-Napoleonic Era, Oxford 2009; Christopher
A. Bayly, Eugenio F. Biagini (Hg.), Giuseppe Mazzini and the Globalisation
of Democratic Nationalism, 1830-1920, Oxford 2008. Eine übergreifende
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513