Seite - 58 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Bild der Seite - 58 -
Text der Seite - 58 -
58 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
mus« waren in allen Staaten am Werk, sie schürten den Argwohn der
Völker gegeneinander. Dieser reaktionäre Klüngel wirkte im Geiste
der Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts, er begriff die Völker als
Manipulationsmasse, vertrat die Staatsräson gegen den liberalen Ge-
meinsinn, gegen die bürgerliche Mitwirkung an den öffentlichen
Angelegenheiten und die Freiheitsrechte. Die im Völkerfrühling brü-
derlich verbundenen Nationen wollten die Machenschaften dieser
Steigbügelhalter des Absolutismus durchkreuzen, indem sie, wie Jo-
hann Gottfried Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Huma-
nität geschrieben hatte, einen »stillen Bund« bildeten.99 Dieser Ton
schwingt 1848 mit, als man in der vorberatenden Sitzung des kon-
stituierenden Reichstags ein »edles und großes Volk, wenn auch aus
verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt«100 begrüßt, und er
durchzieht den im März 1849 in Kremsier mit großer Mehrheit gebil-
ligten Verfassungsentwurf.101
Während der Revolution von 1848 wurde das vertikal gegliederte
Schema des Vormärz – der »stille Bund« der Völker, der sich gegen die
reaktionären Drahtzieher richtete – in ein System horizontal struktu-
rierter Auseinandersetzungen überführt: Es entstanden rivalisierende
Nationalcharaktere, die als Autostereotypen und Fremdbilder fungier-
ten, sie waren bei allen Nationen gleichartig gestaltet, innerhalb jeder
Nation aber fundamental umstritten. Der als archetypisch behauptete
99 Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Riga 1793-
97, 10 Tle., Zehnte Sammlung (1797), 286: »Müßte ein Vaterland notwendig
gegen ein andres, ja gegen jedes andre Vaterland aufstehn, das ja auch mit
denselben Banden seine Glieder verknüpfet? Hat die Erde nicht für uns alle
Raum? Liegt ein Land nicht ruhig neben dem andern? Kabinette mögen ein-
ander betrügen; politische Maschinen mögen gegeneinander gerückt werden,
bis eine die andre zersprengt. Nicht so rücken Vaterländer gegeneinander, sie
liegen ruhig nebeneinander und stehen sich als Familien bei. Vaterländer ge-
gen Vaterländer im Blutkampf ist der ärgste Barbarismus der menschlichen
Sprache.«
100 Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen
Aufnahme, Bd. I, Wien 1870, 1.
101 Vgl. auch den Entwurf der Grundrechte des österreichischen Volkes nach
den Beschlüssen der zweiten Lesung im Konstitutionsausschusse, § 21: »Jeder
Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner
Nationalität überhaupt und seiner Sprache besonders. Die Gleichberechti-
gung aller landesüblichen Sprachen in Schulen, Amt und öffentlichem Leben
wird vom Staat gewährleistet.« Zit.n. WZ, 23. 12. 1848, Extra-Blatt der Abend-
Beilage, später eingeflossen in Art. 19 (1) Staatsgrundgesetz vom 21. Decem-
ber 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe
vertretenen Königreiche und Länder, Reichsgesetzblatt Nr. 142 /1867.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513