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und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft
Zweitens führte das Zerbrechen des Landespatriotismus zur Du-
plizierung der normativen Vergangenheit des jeweiligen Landes. Das
habe ich an den Konflikten über patriotische Stoffe, etwa über die
Ottokar-Bearbeitungen, aufgezeigt, in denen nun entweder Rudolph
von Habsburg oder Ottokar Přemysl als protojosephinische Vorbildfi-
gur dargestellt wurde.105 Dieselbe Verdoppelung findet sich, wie oben
skizziert, in der Geschichtsschreibung, in der analoge, aus der Histo-
riografie der Spätaufklärung entnommene Topoi der ursprünglichen,
frühmittelalterlichen Freiheit (bäuerliche Besitzbefähigung, Absenz
der Leibeigenschaft, Geschworenengerichtsbarkeit, Volksversamm-
lungen) jetzt in einander ausschließende, slawische oder deutsche Ge-
schichten eingebaut, und als Urform und Nachahmung nacheinander
geschaltet wurden. Die in den 1850er Jahren, während des Neoabsolu-
tismus konzipierte gesamtvaterländische Geschichte scheiterte so auch
daran, dass die staatsaffinen Historiker die Grundlagen der erstrebens-
werten monarchischen Ordnung historisch nicht mehr kohärent in-
terpretieren konnten, weil sie diese aus rivalisierenden National- bzw.
Stammesgeschichten (Slawen, Germanen) herleiteten.106
Damit war drittens das Fortschrittsmonopol des »aufgeklärten Ab-
solutismus« gebrochen, weil eines seiner wichtigsten Motive, jenes der
Verspätung der Monarchie, deren Entwicklungsrückstände die von
Wien aus gesteuerten Reformen wettmachen sollten, gegen die Dy-
nastie gekehrt wurde. Das geschah durch eine »protochronistische«
Argumentationsweise,107 nämlich durch den Nachweis, dass die Er-
rungenschaften des späten 18. Jahrhunderts bereits Jahrhunderte zu-
Voltaire, sie kämmt sich die Haare […]«; Die Philosophie und das Cze-
chenthum, in: G (1848), 165-167.
105 Vgl. Abschnitt 2 oben.
106 Das zeigt sich nach 1848 an den Versuchen, die Ursprünge von Grund-
figuren monarchischer Ordnung historisch zu begründen. Austrosla-
wistische und großösterreichisch-deutsche Konservative befürworteten
diese Grundfiguren gleichermaßen, konnten sie aber in den 1850er Jahren
aufgrund der postrevolutionären Schuldzuweisungsymmetrie eben nicht
mehr einheitlich ableiten. Vgl. etwa Johann Ptaschnik, [Rez. v.] W. W. To-
mek, Děje mocnářstwí rakauského, Praha 1852, in: ZföG 4 (1853), 655-661.
Vgl. hier v. a. die Anmerkung der Redaktion, die anlässlich von Tomeks
Kommentierung der Kolonisierung unter Ottokar II. Přemysl, 661, Anm.
*, darauf hinweist, dass die »bloße Einführung des Königtums und seiner
Consequenzen« bereits die Aufnahme eines germanischen Elements in die
»Urgrundlagen« der altböhmisch-slawischen Verfassung belege.
107 Vgl. Maciej Janowski, Three Historians, in: CEU (2001 /2002), 199-232.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513