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70 Die katholische Aufklärung
Diese Anordnung findet sich ebenfalls bei Winters Gegenspieler,
dem Jesuitenpater Ferdinand Maaß, der aber Winters Bewertung um-
dreht. Maaß, der die Kirchenpolitik seit Maria Theresia in einer fünf-
bändigen Quellendokumentation erschloss, diente die Restauration als
Hintergrundfolie der Rechtgläubigkeit, vor der sich die »josephini-
schen« und liberalen, also: kirchenfeindlichen Umtriebe des Vormärz
abspielen.4 Wie sich die Restauration in ihren Funktionskontexten
darstellte, wie ihre Bezüge zur Aufklärung gelagert waren, welchen
Anteil sie schließlich an der Umprägung der Aufklärung zur histori-
schen Epoche hatte, all das soll im dritten Kapitel beleuchtet werden.
Auf den folgenden Seiten steht zunächst die maria-theresianische
Ära im Fokus. Als Ausgangspunkt bietet sie sich deshalb an, weil sie
es gestattet, das Wechselverhältnis von Barockgelehrsamkeit, Kirchen-
reform und katholischer Aufklärung auszuleuchten, damit liefert diese
Analyse auch wertvolle Bausteine für das Verständnis der Restaura-
tion und des Vormärz. Die Publizistik der 1780er Jahre, die Joseph
II. als antiklerikalen Berserker und »Glaubensfeger« darstellte, strich
genüsslich den Kontrast zwischen seinem rabiaten Vorgehen und der
mütterlich-mildtätigen Politik Maria Theresias heraus. Dieser Ge-
gensatz wurde seit den 1790er Jahren weiter ausgeschmückt, als man
das historische Vorbild eines präjosephinischen Bündnisses zwischen
Thron und Altar konstruierte, dem man nacheifern wollte. Die maria-
theresianische Ära begann unter dem Eindruck der Französischen Re-
volution als goldenes Zeitalter der Pietas Austriaca zu erscheinen.5 Die
Kirche sollte nun als Stütze des Vaterlandes und als Barrikade gegen
die Revolution fungieren. Dabei ließen die Architekten dieses staats-
tragenden und antirevolutionären Katholizismus außer Acht, dass die
kirchliche Selbstständigkeit bereits unter Josephs Vorgängern konse-
quent beschnitten worden war. Ab den 1790ern ging das Geschichts-
bild der Allianz von Thron und Altar, an die man anknüpfen wollte,
mit einer spezifischen Strategie der Selbstviktimisierung der katholi-
schen Kirche einher: Sie beschrieb sich als Opfer der josephinischen
Politik und als Fels des Glaubens in der Brandung des Zeitgeistes, um
sich der Dynastie als unentbehrliche Verbündete anzudienen. Dieses
Selbstverständigungsmuster hielt das Gebilde zusammen, für das sich
4 Ferdinand Maaß, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Ös-
terreich, 1760-1850: Amtliche Dokumente aus dem Haus-, Hof- und Staats-
archiv in Wien sowie dem Archivio Segreto Vaticano in Rom, 5 Bde., Wien
1951-1961.
5 Vgl. Kap. III.2. Zum Begriff Anna Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische
Frömmigkeit im Barock, 2. Aufl., Wien 1982.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513