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74 Die katholische Aufklärung
der bischöflichen Erbobergespanschaften in den ungarischen Komita-
ten. Die Gespane standen den sich selbst verwaltenden Komitaten als
Oberhäupter vor, indem Maria Theresia nun die kirchlichen Würden-
träger aus diesen Positionen verdrängte, hoffte sie eine fügsame kleri-
kale Elite ohne eigenständige Machtbasis schaffen zu können; zudem
nahm die Krone für sich in Anspruch, über die Neuvergabe dieser
Stellen zu entscheiden, womit das Wahlrecht des örtlichen Adels im
Komitat ausgehebelt werden sollte.13
Dieser Blick auf die maria-theresianische Regierungszeit verdeut-
licht vor allem eines: Die Reformen, die Joseph II. ab 1780 als Allein-
herrscher vom Stapel ließ, schufen kein neues Modell der Kirchen-
politik. Sie enthüllten vielmehr das Räderwerk eines seit mehreren
Generationen aufgebauten Apparats, der dem Landesfürsten als Kir-
chenvogt, supremus advocatus et protector ecclesiae, zu Gebote stand.
Joseph II. konnte auf die historische Herleitung der landesfürstlichen
Rechte zurückgreifen, welche die Kronjuristen seiner Mutter, Paul
Joseph Riegger14 und Adam Franz Kollár15 vorgelegt hatten. Gewiss
verschärfte sich ab den 1780er Jahren die Gangart. Der Ton wurde
gallig und ultimativ, die Reformen erfassten jetzt alle Lebensberei-
che, sie reichten vom Schnürmiederverbot für Schülerinnen über das
untersagte Reliquienküssen bis zur Klappsargverordnung.16 Josephs
»einen großen Einfluß in die Landtagsgeschäfte giebt, und ein Primas als Chef
der Geistlichkeit bey einem Landtag und auch außer demselben viel gutes
stiften« könne, vgl. József nádor iratai [Schriften des Palatins Joseph], Bd. I,
1792-1804, hg. v. Sándor Domanovszky, Budapest 1925, Nr. 119, 318-321, 321.
13 Bahlcke, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie, 288, 303-
323 u. 349-356; László Tóth, Zwei Berichte des Wiener Nuntius Garampi
über die kirchlichen Verhältnisse um 1776, in: RQ 34 (1926), 330-354, 350,
Anm. 79: »I vescovi di Ungheria sono, generalmente parlando, assai più bene
instrutti nelle buone dottrine, e più attaccati alla Santa Sede, che non lo sono
quelli degli Stati Ereditarii. Possono anche sostenersi meglio, giacchè for-
mano corpo; lo che non succede negli altri Stati.« Garampi an Staatssekretär
Lazaro O. Pallavicini, 24. 6. 1776.
14 Vgl. Abschnitt 4 unten.
15 Andor Csizmadia, Adam Franz Kollár und die ungarische rechtshistorische
Forschung, Wien 1982. In Kollárs Sinn argumentierte auch der Agramer
Domkapitular, Kanoniker und Rektor des Kroatischen Kollegiums in Wien
Adam Baltazar Krčelić, vgl. Balthasari Adami Kercselich Annuae 1748-1767,
hg. v. Tade Smičiklas, Zagrabiae 1901, 81.
16 Intimierungserlass des kaiserl. königl. Oberamtes der Graf- und Herrschaf-
ten Bregenz, Hohemens, und Hoheneck, VLA, Oberamt / Kreisamt Bregenz,
Normalien 2, fol. 535. Aus der »gemeindeeigenen Mehrfachtotentruhe« sollte
die in einen Leinensack gehüllte Leiche in die Grube fallen, um dort mit
gelöschtem Kalk bedeckt zu werden. Zum Vergleich die offizielle Diktion
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513