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77Gelehrsamkeit,
Kunst und Lebenspraxis
die Konstruktion solcher Ahnengalerien in der josephinischen Zeit
hinterfragen möchte, muss man gerade den Aufklärungsbegriff we-
niger pauschal einsetzen, als er bislang verwendet wurde. Oft scheint
es, als würden diese »Aufklärer« geradezu auf Autopilot akkreditiert,
schon der Tatbestand, dass ein Gelehrter etwa mit Gottfried Wilhelm
Leibniz in Korrespondenz stand, rechtfertigt dessen Aufnahme in den
illustren Kreis der Aufgeklärten. Verabschiedet man dieses Gießkan-
nenprinzip, das dazu dient, das Terrain der Gelehrsamkeit der 1730er
und 1740er Jahre flächendeckend mit »Frühaufklärung«20 zu überzie-
hen, dann lassen sich Möglichkeitsbedingungen und Anwendungsbe-
reiche des reformerischen Engagements feiner orten.
Zunächst gilt es, das Verhältnis von Barock und Aufklärung anhand
einiger knapper und aussagekräftiger Fälle aufzuschlüsseln. Seit dem
späten 17. Jahrhundert begann sich in Zirkeln katholischer Gelehrter
spürbares Unbehagen an der scholastischen Theologie zu regen, das
aber nicht zwangsläufig auf die Aufklärung zulief. Das zeigt sich etwa
an den großen Arbeiten der Ordensgelehrsamkeit, die in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Hochblüte erlebte. Die Melker Be-
nediktinerhistoriker Bernhard und Hieronymus Pez beispielsweise
prüften, kontextualisierten und präsentierten in ihren mehrbändigen
Werken reichhaltiges Quellenmaterial; ihre Editionen von monumenta
der Kirchen- und Ordensgeschichte dienten der Untergrabung von
Autoritätsbeweisen, die sich auf die kirchliche Lehre beriefen, aber
empirisch fadenscheinig blieben.21
Die Benediktiner-Editoren machten also der Kurie missliebige Quel-
len in ihrer unverfälschten Textgestalt zugänglich, dieses Unterfan-
gen mündete aber weder in einen gnadentheologischen Jansenismus,
in eine gallikanische Ekklesiologie noch in eine den Kriterien der
Spätaufklärung genügende religiöse Toleranz. Zwar bewegten sich
Ordensleute wie die Brüder Pez mit protestantischen Gelehrten in
einer gemeinsamen deutschsprachigen res publica litteraria: Sie teil-
ten einen schwammigen Reichs-, Kaiser- und Kulturpatriotismus und
forcierten gemeinsam das Studium altdeutscher Sprachdenkmäler. Im
innerkatholischen Streit um kirchen- und ordensgeschichtliche Edi-
tionsvorhaben verbaten sich die Benediktinerhistoriker aber jegliche
20 Vgl. Eduard Winter, Frühaufklärung. Der Kampf gegen den Konfessio-
nalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-slawische Begegnung,
Berlin-Ost 1966. Anregend Dirk Niefanger, Sfumato. Traditionsverhalten in
Paratexten zwischen »Barock« und »Aufklärung«, in: ZfLL 98 (1995), 94-118.
21 Thomas Wallnig, Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bil-
dungsweg von Bernhard Pez OSB vor 1709, München; Wien 2007, 149-174.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513