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93Die
katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment
sich allein gestellte Kirche unfähig sei, den Geheimprotestantismus zu
beseitigen.75
Das theresianische Bündnis zwischen der landesfürstlichen Gewalt
und den katholischen Reformern erwies sich also auch deshalb als so
fragil, weil Muratorianer, Philojansenisten und Staatskirchenrechtler
ihre Parteinahme für die Neuerungen an ganz verschiedene Leitbilder
und Zielvorstellungen knüpften. So zeigt sich etwa, dass die Philo-
jansenisten die Individualisierung und Verinnerlichung des Glaubens
mit einer rigorosen Sakramentalpraxis verbanden, die Tröstungen der
Sakramente sollten nur jenen Gläubigen zuteilwerden, die einen unta-
deligen Lebenswandel pflegten. Während die Jansenisten gegen die an-
geblich profanierende und plebejische Alltagsfrömmigkeit vorgingen,
verfolgten die Anhänger Muratoris eine Doppelstrategie: Sie sorgten
beispielsweise für die drastische Reduktion von Exorzismen in ihren
Diözesen, hielten aber an der Wunderverehrung und ihren Ritualen
fest.76
Ab den späten 1760er Jahren begann der theresianische Konsens
vollends zu zerbrechen. Der Wiener Kardinal Christoph A. Migazzi
hatte sich in den 1750er Jahren unter dem Pontifikat Benedikt XIV.77
als Philojansenist profiliert. Die deutsche Übersetzung von Mura-
toris Della regolata devozione dei cristiani war 1759 unter Migazzis
Patronanz in Wien erschienen.78 Als freilich die Jurisdiktionshoheit
und Zensurautorität der Kirche angetastet wurden, begann Migazzi
auf diese althergebrachten Vorrechte zu pochen, bald sollte er zu
einem der schärfsten Kritiker der Aufklärung im kirchlichen Bereich
werden.79 So traten die Spitzen des Episkopats in den Erblanden, in
Ungarn und in der Lombardei, Migazzi, Fürstprimas József Batthyány
75 Vgl. Burkard von Bonin, Die praktische Bedeutung des Jus Reformandi. Eine
rechtsgeschichtliche Studie, Stuttgart 1902, 1-15, 91-99; Adam Wandruszka,
Geheimprotestantismus, Josephinismus und Volksliturgie in Österreich, in:
ZfK 78 (1969), 94-101.
76 Vgl. die exzellente Arbeit von Paola Vismara Chiappa, Miracoli settecenteschi
in Lombardia tra istituzione ecclesiastica e religione popolare, Milano 1988.
77 Mario Rosa, Tra Muratori, il giansenismo e i »lumi«. Profilo di Benedetto XIV,
in: ders., Riformatori e ribelli nel ’700 religioso italiano, Bari 1969, 49-85.
78 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, 584.
79 In einer Briefsammlung, die das Genre des bischöflichen Sendschreibens pa-
rodistisch aufgreift
– es handelt sich gewissermaßen um Herdenbriefe an den
Hirten – heißt es, die »schmerzliche Vermuthung« habe sich bestätigt, »daß
unser Oberhirt kein Freund der gegenwärtigen Aufklärung des Volkes sey.«,
[Anonym,] Sammlung der Sendschreiben der Gemeinde von Wien an ihren
Oberhirten, Kardinal und Erzbischof Migazzi […], Frankfurt 1783, 49.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513