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katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment
Unversehrtheit und Unteilbarkeit des Königreichs Ungarn.85 In den
1780er Jahren sollte dieses ursprünglich konfessionalistische, nun-
mehr inklusiv-religionsübergreifende Modell eines sakral verbrämten
Verfassungspatriotismus als Angebot an protestantische Josephiner
fungieren. Viele von ihnen wurden tatsächlich dem Reformlager ab-
trünnig, um nicht zu den »inneren Feinden« Ungarns zu gehören.
Das hier bisher präsentierte Material ermöglicht es, die Feinvor-
gänge und Verästelungen zwischen »Barock« und »Aufklärung« zu
erfassen. So werden Figuren wie Sporck und Sperges, Procházka und
Fixlmillner nicht mehr als Lückenbüßer zwischen den Zeiten begrif-
fen, sondern anhand ihrer intellektuellen, ästhetischen und politischen
Anliegen verortet, ohne die wenig treffsichere Begriffs-Wünschelrute
»Frühaufklärung« zu verwenden oder Säkularisierung und Antikonfes-
sionalismus als Basiskriterien zu benützen.86 Wenn man die Jahrzehnte
um 1750 nicht mehr als bloßes Vorspiel der Spätaufklärung, des Welt-
bürgertums, der hochkarätigen Rationalität und des Universalismus
erfasst,87 kann man auch die Wissensgeschichte und die Geschichte der
politischen Ideen in ihrem Wechselverhältnis präziser erfassen.
Der Aufklärungsprozess, der das naturrechtlich angereicherte Staats-
kirchenregiment hervorbrachte, trieb viele der älteren katholischen Re-
former in die offene Opposition oder in die resignative Eigenbrötelei.
Die Eigendynamik und Unverfügbarkeit des Aufklärungsprozesses
verprellte ehemalige Parteigänger der theresianischen Reformen. Viele
dieser reformbereiten Katholiken führten »Aufklärung« ohnehin nicht
als positive Selbstbezeichnung in ihrem Wortschatz. Jene Reformer, die
Aufklärung als positiven Begriff gebraucht hatten, musterten ihn in den
1760er Jahren aus oder prägten ihn in eine Kampfparole um, ohne ihre
frühere Begeisterung für die kritische Kirchengeschichtsschreibung und
85 Vgl. die Enzyklika Klemens XIII., Christianae Republicae Salus [1766], in:
Bullarium Romanum, Prati 1843, IV, ii, 1119-1121; Henrik Marczali, Gróf
Pálffy Miklós főkanczellár emlékiratai Magyarország kormányzásáról [Die
Memoiren des Hofkanzlers Graf Nikolaus Pálffy über die Regierung Un-
garns], Budapest 1884, 27-59, vgl. den locus classicus bei István Werbőczy,
Tripartitum/ Hármaskönyve, Budapest 1897, 55-69; die »heilige Republik«
der Kirche bei Batthyány, Unterthänige Vorstellung, 56.
86 Winter, Frühaufklärung.
87 Vgl. Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklä-
rung in Deutschland, 1680-1720, Hamburg 2002, 423 (Aufklärung als Über-
gang von der Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit), 431 (Verlust der Ironie auf
dem Weg vom Barock zur Frühaufklärung); ders., Reflexive Modernisierung,
Aufklärung und Frühe Neuzeit, in: Ulrich Beck, Martin Mulsow (Hg.), Ver-
gangenheit und Zukunft der Moderne, Berlin 2014, 82-102, 100.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513