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102 Die katholische Aufklärung
der Theologischen Fakultäten von Prag und Wien, Benediktinerabt
Franz Stephan Rautenstrauch von Břevnov in Prag.104
Die beiden fingierten Schreiben aus Borns Zirkel greifen Gellerts
Polemik im Kontext des Prager Nachbarocks auf und sie tun dies im
Modus der Kontrafaktur. Die Bornianer schlüpfen dabei in die Rolle
des von Gellert und Seibt geächteten, monströsen und geschmacklosen
érudit mit seinen Haltungsschäden und Berufskrankheiten.105 In den
satirischen Briefen an Rautenstrauch präsentiert sich Seibt als Ge-
lehrter neuen Typs, er wirkt nicht mehr in der dumpfen Stube. Statt
in seinem Kabäuschen dickleibige Folianten zu wälzen, tritt er aus
der wurmstichigen Gelehrtenwelt ans Licht. Seibt freut sich darauf,
mit Abt Rautenstrauch im Kloster Pläne zu schmieden, vertraut auf
die Bewirtung mit Schnupftabak, Brezeln und Bier. In der Schmäh-
schrift der Bornianer ist der Vertreter der galanten Wissenschaften als
Luftikus porträtiert, als Schaumschläger, der seine leichtfüßige Om-
nikompetenz zur Schau trägt. Über philologische Kenntnisse verfügt
er nicht, versteht nicht einmal Latein, die Begriffe der Naturforschung
und der Medizin kann er nur nachbeten, ohne sie zu begreifen. Bei
öffentlichen Prüfungen über Logik und Metaphysik, bei Rigorosen ist
er auf die Mimik angewiesen – um sich keine Blöße zu geben, ahmt er
grimassierend den Prüfer nach.106
In den fiktiven Briefen Seibts an Rautenstrauch identifizieren sich
die Philologen und Naturforscher selbstironisch mit dem Habitus der
Buchgelehrsamkeit, mit Katzbuckelei und Lukubration: Sie nehmen
diese Mühsal freilich in Kauf, um nützliches Wissen zu erwerben.107
würdigen Abt und Prälaten des Klosters Sankt Margarethen, abgedruckt bei
Beran, Ze zápasů mezi borniány a seibtiány, 39-47.
104 Thomas Wallnig, Franz Stephan Rautenstrauch. Church Reform for the
Sake of the State, in: Jeffrey D. Burson, Ulrich L. Lehner (Hg.), Enlighten-
ment and Catholicism in Europe. A Transnational History, Notre Dame
2014, 209-225.
105 Vgl. Alexander Košenina, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Auf-
klärung, Göttingen 2003.
106 Beran, Ze zápasů mezi borniány a seibtiány, 39-47, 44: »Wenn man sich in
öffentlichen Prüfungen über logische und metaphysische Spitzfindigkeiten
lateinisch zanken wird, dann schweige ich zwar stille, um nicht in einer
Sprache, die mir so wenig geläufig ist, einen Donatschnitzer zu begehen.
Hingegen werde ich bald mit dem Kopfe dem Prüfenden Beifall zunicken,
bald hämisch lachen, bald die Ohren spitzen und auf dem Vortrag oder die
Wiederholung der Sätze mit einer bedächtlichen Miene achthaben usw.«
107 Ebda., 40: »Nun mögen sie kommen, die finsteren Herren, die sich ihre
Arbeiten so sauer werden lassen, die bei lateinischen, und Gott sei mit uns,
griechischen Folianten oder bei alten unleserlichen Urkunden die Nächte
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513