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104 Die katholische Aufklärung
Gefälligkeits- und Autoritätszitate, die wieder dem Zweck der Kanon-
bildung – man denke an die Kirchenväterzitate der Scholastiker – und
der Elitenreproduktion dienen.112 Viertens schließlich tritt neben diese
Gleisnerei die perfide Anschwärzung der universitären Gegner bei den
gubernialen und bischöflichen Behörden, das heißt die Verketzerung
der Widersacher als »Freigeister«.113
Die Scholastikkritik war ein strategisches Signal der Aufklärer, die
sich damit als Garanten der Neuerung profilierten. Im Prager Kontext
wetteiferten zwei Varianten der Aufklärung um die Position des Inno-
vationsgaranten und aktualisierten dabei Ressourcen, Konfliktkonstella-
tionen und Feindbilder aus der barocken Wissensordnung. Für ein bes-
seres Verständnis des Wandels der Wissensregimes ist diese Perspektive
sehr ergiebig. In der Privatgesellschaft kooptierten die Naturhistoriker
und Geschichtsforscher um Dobner und Born jene ältere Generation
barocker Gelehrter, die von den Vertretern der galanten Wissenschaften
als geschmacklose Stubengelehrte und Apostel einer überholten Latini-
tät angeprangert wurden. Die Bahnbrecher der schönen Wissenschaften
warfen dieser Forschergruppe vor, sie seien querköpfige Käuze, die
nicht für die Welt wirkten und lediglich ihr Arkanwissen pflegten. Das
ließen die Naturforscher und Historiker nicht auf sich sitzen. Weder
wollten sie den Seibtianern die Alleinvertretung der Aufklärung über-
lassen, noch akzeptierten sie die Verengung der Barockgelehrsamkeit
auf die Scholastik. Im Gegenteil: Die Bornianer rückten Seibt mit jenen
polemischen Formeln zu Leibe, die zwanzig Jahre zuvor gegen die Je-
112 Vgl. Beran, Ze zápasů mezi borniány a seibtiány, 47: »Sie müssen die Apos-
telgeschichte, die Väter und die geistlich und weltliche Geschichte plündern
und eine neue Diatribe ans Licht treten lassen, in der Sie sonnenklar dartun
sollen, daß ein Mann, der nicht bei mir Moral studiert hat, nach allen gött-
lich und weltlichen Rechten nicht zum Professor könne ernennet werden.«
113 Seibts Empfehlung, Professor Franz L. Ehemant auf den zweiten Lehr-
stuhl der Physik und Moral zu berufen, wird mit dessen Vorgehen gegen
die »Freigeister« begründet: »[V]erketzert jeden, den er nur will, auf die
verschlagenste Weise, weinet über den Wert der Offenbarung seinen Kom-
militonen, sooft sie wollen, vor und stottert bei jeder Gelegenheit ein paar
moralische Denksprüche so passend wie Bruder Gerundio herab.« Ebda.,
43. Vgl. José Francisco de Isla, Historia del famoso predicador Fray Ge-
rundio de Campazas, diese Priestersatire wurde 1773 von Friedrich Justin
Bertuch ins Deutsche übersetzt. Zum Zensurprozess gegen Seibt im Jahr
1779 Jaroslav Prokeš, Aféra Seibtova roku 1779 [Die Seibtaffäre im Jahr
1779], in: Českou minulostí. Sborník k šedesátinám prof. Václava Novot-
ného, Praha 1929, 317-330 u. Ivo Cerman, Secular Moral Philosophy: Karl
Heinrich Seibt, in: ders. u. a. (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Reli-
gion, Morality, and Multiculturalism, Oxford 2011, 147-168.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513