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105Scholastiksatire
und Patriotismuskonkurrenz
suitenuniversität eingesetzt worden waren. Die Lehrer und die Zöglinge
der »schönen Wissenschaften« rühmten sich ihrer Allwissenheit und
übten Kontrolle über die gelehrten Kommunikationsmodi und die Be-
rufungspolitik an den Lehranstalten aus; zudem erfüllten die sciences
galantes eine zutrittsregulierende Funktion, ihre Absolventen empfah-
len sich für den Staatsdienst, somit waren sie würdige Nachfolger der
scholastischen Argumentationskultur und der Jesuitenwissenschaft.
Die Nützlichkeitskonkurrenz, die zwischen den Bornianern und
den Seibtianern ausgetragen wurde, war auch eine Patriotismuskon-
kurrenz. Die Vertreter der schöngeistigen Ästhetik stellten die Mut-
tersprache in den Vordergrund und lehnten die Kultur der Latinität
als überholt ab. Das ließen die Prager Naturforscher und Historiker
nicht gelten, sie fragten vielmehr, ob es nicht wichtiger sei, die Natur
und die Geschichte des Vaterlandes im Verbund mit ausländischen
Gelehrten zu erforschen – zunächst einmal einerlei ob auf Lateinisch,
Deutsch oder in einem erst zur Wissenschaftssprache auszubildenden
Böhmisch –, als eine von Gottsched’schen, oberdeutschen Stilmaßstä-
ben abgeleitete Kunstsprache zum Medium der Wissenschaften und
der Selbstverständigung im Verwaltungsapparat zu machen.
Für die Geschichte der Aufklärung ist die Prager Konfiguration sehr
ergiebig. Die Auseinandersetzung zwischen Naturforschern, Histori-
kern und Vertretern der klassischen Gelehrsamkeit sowie den Expo-
nenten der »schönen Wissenschaften« führte zu einer Polarisierung, die
Konkurrenz um Patriotismus und Nützlichkeit sowie die Prestige- und
Ressourcenkonflikte, die sich im Rahmen der Staats- und Studienre-
form entfalteten, lösen die Konfrontation zwischen zwei Spielarten der
Aufklärung aus.114 Hier wird eine jener Konstellationen greifbar, in
denen sich eine Variante der Aufklärung von einer anderen abhebt
und sie als Gegenaufklärung brandmarkt.115 In Frankreich war das
geschehen, als die philosophes die sensualistische Synthese von Ma-
lebranche und Locke verwarfen,116 welche die Jesuiten an der Sor-
114 Beran, Ze zapásů mezi borniány a seibtiány, 26 (»dvou protikladných
osvícenských proudů v Čechách«).
115 John G. A. Pocock, Enlightenment and Counter-Enlightenment, Revolu-
tion and Counter-Revolution. A Eurosceptical Enquiry, in: HPT 20 (1999),
125-139, 132. Was zunächst als »fixed antipathy to Enlightenment in some
final sense of the term« erscheint, entpuppt sich oftmals als »one species of
Enlightenment in opposition to another«.
116 Jeffrey D. Burson, The Rise and Fall of the Theological Enlightenment.
Jean-Martin de Prades and Ideological Polarization in Eighteenth-Century
France, Notre Dame 2010.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513