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106 Die katholische Aufklärung
bonne erarbeitet hatten. Eine ähnliche Zäsur sollte sich vollziehen, als
D’Alembert die érudition in der Encyclopédie desavouierte, wobei er
übrigens Topoi der Jesuitenpublizistik aufgriff, die gegen die gallikani-
sche Gelehrsamkeit gerichtet gewesen waren.117
Somit erhellt die Prager Konstellation nicht nur die satirische Verar-
beitung des Übergangs vom Barock zur Aufklärung. Sie zeigt darüber
hinaus, dass in den habsburgischen Milieus rivalisierende Spielarten
der Aufklärung miteinander wetteiferten und dass in dieser Konkur-
renzsituation Scholastik und weltabgewandte Gelehrsamkeit als pole-
mische und polyvalente Motive fungierten. Die galanten Seibtianer
versprachen, mit ihren schönen Wissenschaften das Fundament für
die Bildung des Weltmanns, des nützlichen Bürgers und des loyalen
Beamten zu liefern, damit stellten sie sich, wie die Bornianer monier-
ten, in die Tradition der Jesuitengymnasien. Die somit propagierte
»Nützlichkeit« bestand laut den Bornianern im Eintrichtern einer
rationalistischen Poetik, einer populärphilosophischen Ethik und einer
gereinigten deutschen Sprache, sie war also ein Hirngespinst. Zudem
würden wertvolle Lehr- und Zeitressourcen von jenen Fächern abge-
zogen, die für die Kenntnis des Vaterlandes und der Natur unentbehr-
lich seien. Die Anpassungsfähigkeit an ideologische Inhalte aller Art
sei das Hauptziel der seibtianischen Erziehung, auch damit folgten
sie, wie in der Marginalisierung der Realien und der Verketzerung
von Rivalen, der alten jesuitischen Bildungstradition. Während die
Geschichts- und Naturkunde konkretes Wissen über die Bedürfnisse
und Lebensumstände der Mitbürger im engeren Umkreis des Vater-
landes – des Königreichs Böhmen – vermittelte, würden von den ga-
lanten Wissenschaften unbrauchbare, Süßholz raspelnde Weltbürger
ausgebildet. Der Kosmopolitismus ersetzte die jesuitische Weltläufig-
keit. Statt die Kenntnisse über das eigene Heimatland sine ira et studio
zu vertiefen, wurde dieses Wissen moralischen Gesichtspunkten der
Rührung, Erbauung und abstrakten Nächstenliebe untergeordnet und
mit empfindungsästhetischen Sprachcodes überformt.
117 John G. A. Pocock, Barbarism and Religion, Bd. I, The Enlightenments of
Edward Gibbon, Cambridge 1999, 81-82; Claude Nicolet, Des Belles-Let-
tres à l’érudition: L’antiquité gréco-romaine à l’Académie au XVIIIe siècle,
in: CRAIB-L 145 (2001), 1627-1637; Bruno Neveu, Un académicien du
XVIIIe siècle, traducteur et biographe de l’empereur Julien: L’abbé de La
Bletterie, in: CRAIB-L 144 (2000), 93-111; Lionel Gossman, Medievalism
and the Ideologies of the Enlightenment. The World and Work of La Curne
de Sainte-Palaye, Baltimore 1968, 84.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513