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108 Die katholische Aufklärung
ca.121 Die Leibniz-Wolff’sche Ethik und Naturphilosophie – Wolff
hatte seit seiner Breslauer Zeit thomistische Vorlagen verarbeitet
– gilt
hier als Hauptscharnier.122
Die Umprägung spätscholastischer Prämissen vollzog sich in ver-
schiedenen Zweigen der Gelehrsamkeit sehr asymmetrisch: So blieb
etwa die Wolff’sche syllogistisch-geometrische Methode im Natur-
recht eng an ihr deistisches Substrat gebunden, in eben dieser Form
sollte sie sich in der Gestalt von Carl Anton von Martinis Lehrbüchern
bis ins 19. Jahrhundert zu behaupten.123 Dasselbe galt für den Uni-
versalienrealismus, dessen Aufbau ich am Beispiel Bernard Bolzanos
und der sogenannten »österreichischen philosophischen Tradition« im
vierten Kapitel eingehender analysiere.124 Unterdessen lösten sich die
eklektische Philosophie, die philologische Hermeneutik und die empi-
rische Naturforschung bald von den Wolff’schen Prämissen.
Die katholische Aufklärung bildete kein Atoll, keine methodisch-
politische Einheit, sie war vielmehr archipelartig über verbindende
Schichten verschiedener Reichweite integriert, über die Ebenen der
Poetologie, der Verfahrensformen und der Erkenntnispragmatik. Diese
Modi standen auf abgestuften Niveaus verschiedenen Varianten der
Aufklärung zur Verfügung. So verbanden etwa das Format des Lehr-
gedichts und das Programm der Affektkultivierung die an Shaftesbury
Deutschland?, in: Harm Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung
– Aufklä-
rung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, 36-39, 39.
121 »Es wird also nicht Christian Wolff empfohlen, und es wird auch nicht
die neuere Hallesche Idee des natürlichen Rechts verordnet, sondern die
ältere, die ehemals führende protestantische. Das liegt wohl daran, daß
diese Naturrechts-Lehre sich recht gut mit den Naturrechtsvorstellungen
der spanischen Spätscholastik verknüpfen läßt, der sie bekanntermaßen ja
auch viel verdankt. Den Wiener Reformern ist dies fraglos vertrauter als
die näheren Umstände der Lehre Wolffs. Späterhin legen dann ohnehin
Martinis Compendien hier den für die habsburgischen Lande kanonischen
Grundstock«, Notker Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich.
Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territo-
rien im 18. Jahrhundert, Berlin 1977, 188.
122 Bruno Bianco, Wolffianismus und katholische Aufklärung. Storchenaus
Lehre vom Menschen, in: Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung, 67-103;
Stanislav Sousedík, Filosofie v českých zemích mezi středověkem a osví-
censtvím [Philosophie in den böhmischen Ländern vom Mittelalter bis zur
Aufklärung], Praha 1997, 277; Ivo Cerman, Ethics and Natural Law. Jesuit
Wolffianism in Prague, 1750-1773, in: ders. u. a. (Hg.), The Enlightenment
in Bohemia, 131-147.
123 Vgl. Kapitel VI.8.
124 Vgl. Kapitel IV.2.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513