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112 Die katholische Aufklärung
prägte die Ermittlung des Naturzustandes bei Theologen, Juristen und
Ökonomen: Analog zum Verfahren der linearen Superposition ab-
strahierten sie reine, ursprüngliche Zustände aus den gemischten Ver-
hältnissen ihres Objektbereichs, die sie dann normativ aufluden und in
eine Idealvergangenheit projizierten.133 So entwarfen die Juristen ih-
ren vorgesellschaftlichen Naturzustand, aus dem sie die angeborenen,
unverwirkbaren Urrechte des Menschen (iura connata) ableiteten, so
beriefen sich die Jansenisten auf eine utopisch verklärte Urkirche. Die
Bedeutung dieser Ursprungsmomente lag in ihrer Modellhaftigkeit, sie
waren nicht eigentlich historisch. Der Ursprung wirkte als Beurtei-
lungsfilter, er lieferte die Maßstäbe zur Gliederung und Bewertung des
Geschichtsverlaufs nach übergeordneten Prinzipien: Das zeigt sich
an den unveräußerlichen Urrechten ebenso wie an der »natürlichen
Religion« oder an der Idealdistribution einer »natürlichen« Verteilung
der Reichtümer, von der die Merkantilisten der Aufklärung und ihre
Erben, die politischen Ökonomen des Vormärz, ausgingen.134
Der Newtonianismus wurde für die katholische Aufklärung zu
einer Zeit prägend, als die Kosmologien von Descartes und Leibniz
bereits weite Verbreitung in den Gelehrtenmilieus der habsburgischen
Länder gefunden hatten. Descartes ging von einer flüssigen Himmels-
materie aus, in der spontane, sich selbst organisierende Wirbel zur
Herausbildung der kosmischen Massen führten, Gott erschien als
außerweltlicher Schöpfer der Materie.135 Die Leibnizianer hingegen
begriffen den Raum als System relationaler Verhältnisse zwischen
Körpern, Gott agierte als Erhalter der prästabilierten Harmonie einer
Natur, die aus fensterlosen, also von äußeren Einflüssen abgekapsel-
ten Monaden bestand. Newton ersetzte die cartesianische Theorie
der Übertragung von Impulskräften über Stoß und Druck durch eine
immaterielle, mathematisch messbare Kraft, die Gravitation: Die Wir-
belhypothese Descartes’ ließ Newton nicht gelten, weil sie im Wider-
spruch zur Regelmäßigkeit der Bewegungsbahnen kosmischer Körper
stand.
Die Newtonianer machten ihr Idol zur Symbolfigur, wobei die An-
eignung von Isaac Newtons Lehre notwendig selektiv blieb. Newton
selbst hatte Gott in seiner Kosmologie eine prominente Rolle einge-
133 Vgl. Kap. IV.4.
134 Vgl. Kap. V.3 u. VI.9.
135 Carlo Borghero, Il crepuscolo del cartesianismo. I gesuiti dei »Mémoires de
Trévoux« e la dottrina dei petits tourbillons, in: NRL 1 (2004), 65-98; Jolán
Zemplén, A magyarországi fizika története a XVIII. században [Geschichte
der ungarischen Physik des 18.
Jahrhunderts], Budapest 1964, 199-214.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513