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113Newtonaneignung
im katholischen Milieu
räumt, was seine Schüler großzügig übertünchten. Vom Alchemisten,
Arianer und Apokalyptiker Newton, der dem Stein der Weisen auf der
Spur gewesen war und ausführliche Berechnungen über den Zeitpunkt
des Jüngsten Gerichts anstellte, war bei seinen Parteigängern nicht
mehr die Rede. Stattdessen zeichneten die Newtonianer das gefällige
Bild eines gut anglikanischen und deistischen Naturforschers, dem
der Glaube an Gott lediglich aus Vernunftgründen geboten schien.
Newton selbst hatte den Schöpfer als Architekten des Kosmos erfasst,
dessen Ausgangsverteilung auf das Design Gottes zurückging, war
aber auch davon überzeugt gewesen, dass es göttlicher Eingriffe in den
Weltenlauf bedürfe: So justierten etwa von Gott gesandte Kometen die
Gesetze des Universums nach, die durch sich aufschaukelnde Unregel-
mäßigkeiten im gravitativen Wechselspiel der kosmischen Massen aus
dem Lot geraten waren.136 Die Newtonianer retuschierten sorgfältig
diese Züge im Bild ihres Gründervaters, klammerten Gottes direkte
Eingriffe in den Kosmos aus, und machten Newtons Prämissen der ab-
soluten Zeit und des absoluten Raums theodizeefähig, indem sie beide
Bestimmungen als Attribute Gottes auslegten.137
Der dalmatinische Jesuit und Naturforscher Ruđer Bošković for-
mulierte seit den 1730er Jahren in Rom eine systematische Naturlehre,
die den Newtonianismus in den katholischen Milieus der Monarchie
salonfähig machte.138 Als Bošković 1757 nach Wien kam, unter ande-
rem um die Statik der Hauptkuppel der Hofbibliothek zu begutachten,
konnte er am dortigen Jesuitenkolleg und an der Universität Newtons
Lehre intensiv diskutieren, in seinem Hauptwerk, der Theoria philoso-
phiae naturalis, wendete Bošković Newtons einheitliches, allgültiges
136 Isaac Newton, Optice, 346-347; ders., Account of the Commercium Epi-
stolicum [1715], auszugsw. in: Stuart Clarke, Der Briefwechsel mit G. W.
Leibniz von 1715 /1716, hg. v. Ed Dellian, Hamburg 1990, 154; Gottfried
W. Leibniz, Extrait d’une Lettre de M. Leibniz à S. A.R. Mad. la Princesse
de Galles, écrite au Mois de Novembre, 1715, in: Godofredi Guilielmi Leib-
nitii Opera philosophica quae exstant latina gallica germanica omnia, hg. v.
Johann E. Erdmann, I, Berolini 1840, 746-747.
137 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen-
schaft der Neueren Zeit, Bd. II [1922], hg. v. Birgit Recki u. Dagmar Vogel,
Hamburg 1999, 377.
138 Vgl. als vorzügliche Überschau Ivica Martinović, Recepcija Boškovićeve
filozofije na austrijskim sveučilištima do 1773. godine [Die Rezeption der
Philosophie Boškovićs an den österreichischen Universitäten bis zum Jahr
1773], in: PZIHFB 76 (2012), 197-264; Hans Ullmaier, Josef Smolka, Bosco-
vichs Naturphilosophie und ihre Rezeption in den böhmischen Ländern,
in: Petronilla Čemus, Richard Čemus (Hg.), Bohemia jesuitica 1556-2006, 2
Bde., Praha 2010, II, 745-776, 766.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513