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114 Die katholische Aufklärung
Kraftgesetz auf die Eigenschaften der Materie an. Die Theoria füllte
den Raum mit diskreten und identischen, unteilbaren Punkten, von
denen Kräfte ausgingen, die aber weder Masse noch Ausdehnung be-
saßen.139 Damit untermauerte Bošković das Kontinuitätsprinzip, kam
aber ohne Newtons ominösen absoluten, leeren Raum als Übertra-
gungsmedium von Fernkräften und Sensorium Gottes aus.140 Die Ma-
terie in ihrer Vielfalt entsteht bei Bošković aus der Zusammenballung
der puncta zu Partikeln verschiedener Größe, Form und Struktur, zwi-
schen den Punkten entfalten sich Abstoßungsreaktionen, die asymp-
totisch anwachsen, je näher sie einander kommen; Agglomerationen
von Punkten bilden sich in stabilen Lagen, wo die wechselwirkenden
Kräfte von der Abstoßung zur Anziehung umschlagen.141
Die Jesuitenphilosophen hatten Newtons Mechanik zunächst mit
Einschränkungen adaptiert, sie sparten das allgemeine Gravitations-
gesetz aus, womit sie die offene Anerkennung des Heliozentrismus
vermieden. Dieses Dilemma beschäftigte auch Bošković. Schon in
den 1740er Jahren hatte er in Rom eine Kosmologie entwickelt, die
zwischen absolutem und relativem Raum unterschied: Die terrestri-
schen und himmlischen Körper befänden sich, so Bošković, in einem
relativen, sinnlich wahrnehmbaren Sternenraum, in dem Beobach-
tungen und Experimente stattfänden.142 In diesem Raum galten die
Gesetzmäßigkeiten der Newton’schen Physik, die Erde bewegt sich
um die Sonne, alle anderen von Newtons Mechanik vorgesehenen
Bewegungen waren ebenfalls möglich. Der relative Sternenraum liege
innerhalb eines absoluten Raumes; wenn nun dieser absolute Raum
bei Erdgeschwindigkeit dieselben Bewegungen wie die Erde vollziehe,
dies aber in der exakt entgegengesetzten Richtung geschehe, stehe die
Erde aus der Sicht eines äußeren Beobachters still. Eben dieser Per-
spektive des göttlichen »unbewegten Bewegers« trug das kirchliche
139 Roger J. Boskovich, Theoria philosophiae naturalis, redacta ad unicam le-
gem virium in natura existentium, 2. Aufl., Venetiis 1763, 63-64.
140 Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, 3 Bde., Gene-
vae 1739-1742, III/2 (Scholium generale).
141 Marcus Hellyer, Catholic Physics. Jesuit Natural Philosophy in Early Mo-
dern Germany, Notre Dame 2005, 231; Hans Ullmaier, Puncta, particulae
et phaenomena. Der dalmatinische Gelehrte Ruđer Bošković und seine Na-
turphilosophie, Hannover-Laatzen 2005, 131.
142 Roger J. Boskovich, De Cometis, dissertatio habita a pp. Soc. Jesu in colle-
gio Romano, Romae 1746, VIII-IX sectio 15-16; Žarko Dadić, Boskovich
and the Question of the Earth’s Motion, in: The Philosophy of Science of
Ruđer Bošković. Proceedings of the Symposium of the Institute of Philoso-
phy and Theology, Zagreb 1987, 131-138.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Titel
- Aufklärung habsburgisch
- Untertitel
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Autor
- Franz Leander Fillafer
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Abmessungen
- 14.0 x 22.2 cm
- Seiten
- 628
- Schlagwörter
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513